Vor 200 Jahren: Der Hungertod im Sonnenuntergang

Mit dem „Jahr ohne Sommer“ kündigt sich 1816 eine Hungerkatastrophe ungekannten Ausmaßes in Europa an, die eine Epoche der Verarmung und Auswanderung einläutet. Im Bürgertum geht die Angst vor den Elenden um.

Vor 200 Jahren: Der Hungertod im Sonnenuntergang
Foto: Foto: © Museum Folkwang, Essen Foto: Jens Nober

Weimar/Cologny. Robert Walton schreibt an seine Schwester. Er berichtet von einer Expedition, die in der Arktis eine Nordpol-Passage finden will. Eingeschlossen im Eis beobachtet die Schiffsbesatzung eine hünenhafte Gestalt, die auf einem Hundeschlitten nach Norden eilt. Am Tag darauf nimmt das Schiff einen Todkranken auf, dessen Lebensgeschichte Robert in den Briefen an seine Schwester erzählt. Der Name des Todgeweihten: Frankenstein.

Caspar David Friedrich: Neubrandenburg um 1816/17. Fotorechte: Pommersches Landesmuseum, Greifswald

Caspar David Friedrich: Neubrandenburg um 1816/17. Fotorechte: Pommersches Landesmuseum, Greifswald

Foto: Caspar David Friedrich:

So beginnt Mary Shelley ihren Horror-Briefroman, den sie in der Villa Diodati am Genfersee niederschreibt. Die Villa gleicht im Frühjahr 1816 einem Irrenhaus: Der skandalumwitterte Dichter Lord Byron ist dorthin im Mai mit einer kleinen Schar Getreuer geflüchtet; es gibt zu viel Opium, zu viel Alkohol. Man kann das Haus praktisch nicht verlassen und ersinnt düstere Geschichten. Wolken, Regen, Unwetter, Dunkelheit, Schnee bis in den Juli.

Lebensmittelpreise im Januar 1817 - dem "Theurungs-Jahre - wie die Darstellung oben unterschreiben ist.

Lebensmittelpreise im Januar 1817 - dem "Theurungs-Jahre - wie die Darstellung oben unterschreiben ist.

Foto: Fotorechte: Hauptstaatsarchiv Stuttgart J 302 Nr. 57

Es ist das „Jahr ohne Sommer“. Was niemand in Europa ahnt: Im fernen Indonesien ist ein Jahr zuvor im April 1815 der Vulkan Tambora ausgebrochen und hat die unvorstellbare Masse von 150 Kubikkilometern Staub und Asche in die Atmosphäre geschleudert, die nun für fast vier Jahre den Planeten verdunkeln und sein Klima verändern wird. Der Nordosten Amerikas sowie der Westen und Süden Europas werden ab 1816 von Kälte und Unwetterperioden heimgesucht.

„Das Jahr ohne Sommer“ löst ab 1816 eine Hungersnot vor allem in der Schweiz, Süddeutschland und dem Rheinprovinzen aus. Getreide verfault im Regen auf den Feldern, Fruchtfolgen werden zerstört, Nutztiere verhungern, Flüsse treten über die Ufer. Mit dem Jahr 1817 setzen Jahrzehnte der Massenarmut und Massenauswanderung ein.

Caspar David Friedrich ist in der alten Heimat Greifswald und malt. Vor ein paar Jahren hat Heinrich von Kleist ihn mit überschwänglichem Lob berühmt gemacht, das preußische Königshaus hat seine Bilder „Der Mönch am Meer“ und „Abtei im Eichwald“ erworben, Friedrich ist Mitglied der Berliner Akademie. Für das Abendlicht in seinen aktuellen Bildern braucht er mehr Orange- und Rot-Töne als alle deutschen Maler vor ihm. Friedrich hat nicht vor, die Romantik zu erfinden, sondern malt bloß, was er sieht. Sonnenuntergänge, wie es sie nur nach Vulkanausbrüchen gibt.

Im Rheinland wird die sich anbahnende Klima- und Hungerkatastrophe dadurch verschärft, dass seit 1815 die Preußen das Sagen haben. Das Ackerbauern-Königreich lässt zugunsten seiner ost-elbischen Agrar-Exporteure die „Kontinentalsperre“ gegen die Niederlande und Großbritannien fallen, während für die rheinisch-bergische Industrie weiter ringsum massive Exportbeschränkungen bestehen.

Bereits bevor die Getreidepreise ab Juni 1816 teils um 75 Prozent nach oben schießen, geht die bergische Textilindustrie unter dem Druck englischer Billig-Baumwolle in die Knie: Die Hälfte der rund 3000 Elberfelder Webstühle steht still, die Heimweber im Kreis Lennep sind arbeitslos.

Als ein Laib Brot im Sommer 1816 bereits den anderthalbfachen Tageslohn eines Webers kostet, gründet Elberfelds Bürgermeister Johann Jakob Aders gemeinsam mit 150 wohlhabenden Bürger einen „Kornverein“, der in Norddeutschland und im Ausland billig Getreide einkauft, so dass die Elberfelder Bäcker es unter Marktpreis an die Armen abgeben können. Um dem Missbrauch vorzubeugen, werden Elberfelder „Brotmarken“ mit der Aufschrift „Kaufe in der Zeit so habt ihr in der Noth“ geprägt.

Johann Wolfgang von Goethe wird alt. Er veröffentlicht mit 30 Jahren Abstand den ersten Teil seiner „Italienischen Reise“, seiner heimlichen Flucht aus der Liebe zu Charlotte von Stein. Am 6. Juni stirbt seine Frau Christiane; an der Beisetzung nimmt er nicht teil. Im Tagebuch klagt er über das Wetter. 23. Juni: Schrecklich durchwässerter Zustand des Gartens. 28. Juni: Anhaltendes Regenwetter. 29. Juni: Zum Turnplatz gefahren. War überschwemmt. 30. Juni: Hohes Wasser fortdauernd. Wiederschein der Bäume im trüben Wasser. 13. Juli: Durch kalte Witterung aus dem Park geschreckt. Er nimmt eine fünfwöchige Kur in Thüringen, wo er auch seinen 67. Geburtstag verbringt; es regnet weiter.

Mit jedem Tag, den es weiter regnet — in Teilen der Rheinprovinz ändert sich daran bis November nichts — ist klar, dass der richtige Hunger erst 1817 mit dem Winter beginnen wird. In Köln ziehen im Sommer Tausende von Menschen in Prozessionen betend und singend durch die Stadt. Im Dom werden Gottesdienste abgehalten, um die drohende Katastrophe abzuwenden, berichtet die „Kölnische Zeitung“. Der neue preußische Regierungspräsident Friedrich zu Solms-Laubach lässt aus Militär-Beständen Brot zu subventionierten Preisen an rund 18 000 Erwachsene und Kinder ausgeben; pro Kopf vier Pfund in der Woche. Im Oktober sind die Vorräte aufgebraucht.

Ausgesprochen glücklich ist Harry Heine, der sich seinen eigenen Sonnenschein macht: Er darf endlich Frankfurt verlassen, wo die Spuren des Krieges noch sichtbar sind und sich die Stimmung wieder einmal gegen die Juden wendet. Frankfurt feiert seine Wiederherstellung als Freie Stadt mit einer neuen Verfassung, die Juden ihre Bürgerrechte nimmt. Heine reist nach Hamburg und verliebt sich in seine Cousine Molly. „Seit zwei Jahr hab ich sie nicht gesehen. Altes Herz was freust du dich und schlägst so laut!“, schreibt er am 6. Juli an seinen Freund Sethe.

In Berlin beschließt die preußische Regierung im November, in den Ostseehäfen für zwei Millionen Reichstaler knapp 42 000 Tonnen Roggen zu kaufen, von denen knapp 27 000 Tonnen ins Rheinland geschafft werden sollen. Das klingt viel und entspricht dem Vierfachen der üblichen Importe des Rheinlands — aber es macht nur zehn Prozent der Rheinland-Ernte eines normalen Jahres aus. Im Sommer 1617 wird Solms-Laubach notieren: „Die Absicht, die Untertanen der neuen Provinzen gegen Mangel und Elend zu schützen, ist leider unerreicht geblieben.“ Da ist die Sterbe-Rate ist um ein Drittel gestiegen, die Geburtenrate um ein Drittel gesunken.

Drei Monate nach seinem Höhenflug ist Heine unglücklich. An Sethe schreibt er: „Sie liebt mich nicht! — Musst, lieber Christian, dieses letzte Wörtchen ganz leise, leise aussprechen. In den ersten Wörtchen liegt der ewig lebendige Himmel, aber auch in dem letzten liegt die ewig lebendige Hölle.“

Auch die berühmteste Brieffreundin der deutschen Literatur ist verschnupft. Am 30. Oktober 1816 beklagt sich Charlotte von Stein in einem Brief, dass ihr Weimarer Nachbar und Papier gebliebener Geliebter ihr kein Exemplar seines neuen Buches verehrt: „Goethes ,Italienische Reise’ (Teil 1) höre ich von meinen auswärtigen Freunden loben; er hat mir sie aber nicht mitgeteilt. Er schickt mir manchmal von einem guten Gericht von seinem Tisch, aber von höherer Speise würdigt er mich nicht.“

Das sind Sorgen, die die meisten der 23 Millionen Deutschen gerne hätten. In Deutschland macht die „Rumfordsuppe“ Karriere, eine nach dem pfälzischen Reichsgraf von Rumford benannte billige Soldaten-Nahrung: Graupen und Erbsen, in Wasser zu Brei gekocht. Noch billiger wird sie, wenn man statt Graupen Kartoffeln nimmt. In München stellt das Armenhaus in der Au sie für zwei Pfennig pro Portion her. In Köln soll die städtische Suppenküche allein im Dezember 1816 rund 700 000 Portionen ausgegeben haben.

Andere verdienen am Elend und werden reich, so die großen Kölner Bankiers Herstatt, Schaaffhausen und Stein. Sie spekulieren auch mit Lebensmitteln, während 40 Prozent der Kölner Bevölkerung auf Armenspeisung angewiesen sind. 1817 erreichen Hunger und Verelendung ihren Höhepunkt. Im Süden der preußischen Rheinprovinz schreibt der Ahrweiler Landrat im Mai: „Die Leute fallen scharenweise in die Wiesen, um sich Kräuter zu suchen — als einzige Nahrung: Klee! Die Blätter des Kohlsamens etc. werden gekocht und aufgezehrt. Es ist schrecklich, das Elend in der Nähe zu sehen. Auch zu dem höchsten Preise ist häufig kein Brot zu haben.“ In Baden und Württemberg setzt ein Massen-Exodus ein: Fast 40 000 Menschen verlassen in den ersten vier Monaten ihre Heimat Richtung Russland und Amerika.

Die Kriminalität steigt, Bettler beherrschen das Bild entlang der Straßen und in den Städten. Die Massenarmut beunruhigt das aufstrebende Bürgertum, zumal vor der Menge der Mittellosen städtische Einrichtungen der Armenfürsorge kapitulieren müssen. Deren Ziel war nie die Beseitigung der Armut, sondern die Kontrolle der Armen. In der Hamburger Armenordnung von 1788 heißt es: „Der Gegenstand unserer Armenpflege sind Leute von drei verschiedenen Classen, nemlich die Armen, die Hilfsbedürftigen und die Bettler unserer Stadt. (. . .) In einem blühenden Staat müssen viel Arme, wenig Hülfsbedürftige, und keine Bettler sein.“ Nun macht sich Revolutionsangst breit.

Caspar David Friedrich ist im Dezember 1816 Mitglied der Dresdner Akademie geworden, bezieht nun ein Gehalt von 150 Talern und findet, er könne mit 42 Jahren langsam heiraten. Goethe verzweifelt an Friedrichs Bildern, die keine klare Botschaft haben.

Sulpiz Boisserée, dem großen Heidelberger Gemäldesammler, der 1816 in Paris die fehlende Hälfte des mittelalterlichen Fassadenplans des Kölner Doms findet, hat Goethe hilflos anvertraut: „Maler Friedrich seine Bilder können ebenso gut auf dem Kopf gesehen werden.“ Es sind Bilder vom Anbruch einer neuen Zeit.

Auch Friedrichs 19 Jahre jüngere Frau hat keinen Schimmer, was ihr schwieriger Gatte in abenteuerlichen Kombinationen als realistische Unwirklichkeit auf die Leinwand bringt: „Den Tag, wo er Luft malt, da darf man nicht mit ihm reden.“

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