Steile These im neuen Buch des Zeitforschers Karlheinz Geißler Ist die Uhr ein Auslaufmodell?

Düsseldorf · Zeitexperte Karlheinz Geißler spricht in seinem neuesten Buch von der „Uhrendämmerung“. Was ist dran an seiner These? Und ginge es uns ohne Uhr wirklich besser?

 Von der Kuckucksuhr bis zur Smart Watch – brauchen wir keine Zeitmesser?

Von der Kuckucksuhr bis zur Smart Watch – brauchen wir keine Zeitmesser?

Foto: picture alliance / dpa/Oliver Berga/kay Nietfeld

„Erste zeitfreie Zone der Erde: Die nordnorwegische Insel Sommaroy will die Zeit abschaffen.“ Solche Meldungen geisterten Mitte Juni durch die Medienlandschaft. Weil die Sonne auf dem Eiland mit seinen 350 Bewohnern zur Jahresmitte 70 Tage lang nicht untergehe, habe es auch keinen Sinn, über die Zeit zu reden, hieß es da. Man brauche keine Zeit und keine Uhren. Ein paar Tage später stellte sich heraus, dass das nicht ernst gemeint war, es handelte sich um einen PR-Gag der Tourismusbehörde, mit dem das Reisegeschäft angekurbelt werden sollte.

Doch für Karlheinz Geißler ist es gar nicht so weit hergeholt, dass die Uhr ausgedient hat. Er selbst jedenfalls trägt keine bei sich. „Uhrzeitmenschen“, so sagt der Zeitforscher, „sind Personen, die Gespräche für gelungen halten, wenn sie schnell vorbei sind“. Der 75-jährige emeritierte Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik ist Autor zahlreicher Bücher über das Phänomen Zeit und Gründungsmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Diese hat es sich zum Ziel gesetzt, zum „lebensfreundlichen Ausgleich zwischen Be- und Entschleunigung und zur Nachhaltigkeit von Alltagsstrukturen beizutragen“.

In seinem jüngsten Buch „Die Uhr kann gehen“ vertritt Geißler eine, wie er selbst sagt, „zugegeben etwas steile These“:  dass „die Uhrzeit die Komfortzone ihres langdauernden Monopols verliert“. Und dass es einen  „deutlichen Einflussverlust der Uhr und ihrer Zeigerzeit auf das alltägliche Zeitgeschehen“ gebe.

Telefonische Zeitansage, Taschenuhr – alles Vergangenheit

Für seine These, den Bedeutungsverlust der Uhr, nennt Geißler ein paar nachvollziehbare Beispiele. Einige Uhren sind schon fast ganz aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verschwunden. Neben der Taschenuhr, die ältere Herren vielleicht noch in alten Filmen aus der Weste ziehen und der Uhr am Armaturenbrett des Autos erwähnt er die „nur noch Nostalgikern bekannte Telefonansage“. Die einst meistgewählte Nummer, die der damaligen Bundespost viel Geld beschert hat: „Beim nächsten Ton ist es…“

Nun ließe sich dazu sagen – na gut, ein paar Uhrentypen sind weitgehend verschwunden, aber die Uhr als solche doch nicht. Weil doch fast jeder eine Armbanduhr hat. Die Uhr ums Handgelenk ist übrigens für Geißler auch so ein Objekt, das demjenigen, der sie trägt, nicht gut tut: Mit der Uhr werde zugleich die Leidenschaft gekauft, Zeit zu planen, zu kalkulieren, sparen und gewinnen zu müssen. Die Uhr zwinge ihren Besitzer, die in ihr eingesperrte Zeit kleinzuhacken. Überhaupt sei die Uhr in erster Linie ein Instrument, das den Herrschenden, den Mächtigen und den Einflussreichen dazu dient, Zeitmacht in ihrem Interesse und zu ihren Gunsten auszuüben und dauerhaft abzusichern. Geißler: „Die mechanischen Uhren haben die Menschen zu untertänigsten Knechten gemacht, legten sie an die Kette und fesselten sie mit der Erfindung der Armbanduhr an ihrem Handgelenk.“

So gesehen müsste die „Uhrendämmerung“, über deren Hereinbrechen  Geißler schreibt, etwas  Gutes sein, oder?  Doch ob das mit der Uhrendämmerung wirklich stimmt und ob das dann auch wirklich positiv wäre, ist so klar nun auch wieder nicht. Bevor das diskutiert wird, zunächst einmal ein paar Gedanken von Geißler, woran er diese Uhrendämmerung – und zwar nicht nur das Verschwinden einzelner Uhrentypen, sondern den Rückzug der Uhren generell – festmacht.

Bankomat oder Mediathek – die Uhrzeit spielt keine Rolle

So führen die flexibilisierten Öffnungszeiten von Geschäften dazu, dass die Uhr, die man einst konsultieren musste, um nicht vor verschlossenen Ladentüren zu stehen, diese Serviceaufgabe heute verloren hat.  Auch an sein Geld kommt man dank Bankomat bis spät in die Nacht heran. Und wer im Fernsehen eine Sendung verpasst hat, weil er zum Sendetermin anderes vorhatte, schaut sich das Ganze in der Mediathek an. Geißler sagt wohl zu Recht:  „Das Fernsehprogramm, das dem Alltag vieler Zeitgenossen über eine lange Zeit eine feste, stabile Zeitstruktur gab, erodiert und verliert an Einfluss und Wirkung.“ Auch von der Bahn erwarte kaum noch jemand Pünktlichkeit.

Überhaupt die Pünktlichkeit: So wie die Uhr auf dem Rückzug sei, so sei es auch die Sache mit der Pünktlichkeit, auf die es in unserer Gesellschaft nicht mehr so ankomme. Zum einen, so sagt es Geißler, sei der „Homo smartphoniensis“ nicht mehr so ausgeliefert, wenn sich seine Verabredung verspäte. Wegen des immer greifbaren Unterhaltungsgerätes sei er ja nicht zur Untätigkeit gezwungen. Die Wartezeit tut nicht weh. Außerdem biete das Mobiltelefon  die Möglichkeit, direkt seine Verspätung anzukündigen und damit gleichzeitig dem Gegenüber zu versichern, dass man die Verabredung also solche durchaus ernst nehme. Geißler: „Aus der ehemaligen Pünktlichkeitserwartung ist eine Verpflichtung geworden, rechtzeitig über die Unpünktlichkeit zu informieren.“

Die von Geißler beschriebenen Phänomene gibt es, gewiss. Doch hat die Uhrendämmerung nun wirklich eingesetzt, spielt die Uhrzeit tatsächlich keine so große Rolle mehr, wie Geißler das sagt? Das mag für all diejenigen gelten, die keine Termine einhalten müssen. Ein Rentner oder Müßiggänger mag so denken. Doch die große Masse der Menschen hat gar keine andere Wahl, als sich immer wieder zu einer bestimmten Uhrzeit mit anderen zu verabreden. Die täglich gemeinschaftlich geleistete Arbeit wäre kaum denkbar, ohne eine solche Verabredung zu einer konkret festgelegten Uhrzeit einzuhalten. Und auch das Einhalten privater Termine ist mehr als eine bloße Respektbezeugung gegenüber dem anderen.

Die Uhr kann die Zeitmacht
auch beschränken

Und dann ist die Uhr am Ende doch auch nicht nur ein Herrschaftsinstrument, das den „Herrschenden und den Mächtigen Zeitmacht gibt“, wie Geißler es sagt.  Die Uhr kann auch genau das Gegenteil garantieren – nämlich eine solche Zeitmacht zu beschränken. Diesen Gedanken hat erst im Mai ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs klargemacht. Es ging um Millionen Überstunden, die immer wieder unbezahlt geleistet werden, weil von Arbeitgeberseite die schwächere Position der Arbeitnehmer ausgenutzt wird. Die Richter verlangen, dass die Unternehmen die tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch erfassen.

Arbeitgeber kritisierten das Urteil. Sie wissen, dass sie etwas zu verlieren haben, wenn die Arbeitszeit genau erfasst wird. Wenn das Wort der „Vertrauensarbeitszeit“ von ihnen nicht länger missbraucht werden kann. Zeit ist Geld, der Satz gilt eben nicht nur für den Arbeitgeber, sondern genauso auch für den Arbeitnehmer. Und um hier zu einer möglichst objektiven Messung zu kommen, braucht es: die Uhr.

Zum Thema Arbeitszeit erzählt Geißler in seinem Buch übrigens noch einen feinsinnigen Gag: Die Personalleitung einer Firma sucht bei ihren Mitarbeitern Rat und fragt sie per Aushang: Was können wir tun, damit alle Mitarbeiter pünktlich zum Gongzeichen an ihrem Arbeitsplatz sind? Woraufhin ein Arbeitnehmer eine äußerst kreative Lösung des Problems unter den Aushang schreibt: Lasst doch den „gongen“, der zuletzt kommt.

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