Musiktheater am Düsseldorfer Schauspielhaus Wie „Alice“ Düsseldorf verzaubert

Düsseldorf · „Alice“ ist Düsseldorfs vorerst letzte Schauspielhaus-Premiere vor dem Lockdown - und glänzt mit einer gelungenen Neuinszenierung.

 Lou Strenger (rechts) - hier auf dem Foto Claudia Hübbecker - überzeugt mit ihrer Ausstrahlung und ihrem Gesang 

Lou Strenger (rechts) - hier auf dem Foto Claudia Hübbecker - überzeugt mit ihrer Ausstrahlung und ihrem Gesang 

Foto: Thomas Rabsch

„Alice“ - das britische Mädchen im himmelblauen Kleid gelangt durch eine Tür oder ein Mausloch in eine schillernd-bizarre Welt, in der zwar nicht alles gleich auf dem Kopf steht, aber doch so eigenwillige, exzentrische und merkwürdige Figuren sowie phantastische Gestalten auftreten, wie sie eigentlich nur in Träumen vorkommen: Tränenfee, Herzbuben-Ritter, ein verhuschter Hutmacher, ein schnauzender Herzkönig und eine geifernde Herzkönigin in Creme-Rot, Herzogin in Knatsch Gelb-Lila – sie begegnen dem Mädchen Alice, die alles andere als ein braves Mädel oder pubertierendes Psycho-Monster ist, sondern eher eine selbstbewusste Göre, die in ihrem Traumland und bei ihren rätselhaften Begegnungen in surreal grell leuchtenden Farben das Sagen haben will.

So herrscht Alice (gespielt von Lou Strenger) zumindest in der neuen Düsseldorfer Version, hier ist ihr Reich der Träume – einst erfüllt von Charles L. Dodgson. Der studierte Theologe und Mathematiker, weltbekannt unter seinem Dichternamen Lewis Carroll, war 1865 fasziniert von der jungen Alice Liddell, Tochter seines Universitäts-Dekans. Sie war häufiges Motiv seiner Fotografie-Arbeiten und Vorbild für die Heldin seines berühmten Klassikers „Alice im Wunderland“, den er für sie schrieb.

Theaterstück bietet imposante Geräuschkulisse

In Düsseldorfs Schauspielhaus, jetzt inszeniert von André Kaczmarczyk, dem wundersamen Multi-Talent, Schauspieler und Sänger, der bereits als Kreateur ungewöhnlicher Formate auffiel. Bildende Kunst, Musik und Theater vereint er auch in seiner „Alice“ zu einem schillernden Traum-Gesamtkunstwerk – zusammen mit Jenny Theisen (Kostüme), Ansgar Prüwer (Bühne) und der Live-Band von Matts Johan Leenders. Letzterer schuf für Kaczmarczyks Wunderland süffig zottelige Songs, die ein bisschen an Rock-Musicals à la Tom Waits erinnern. Ebenso sorgt er für eine Geräuschkulisse mit Knall, Bumm und Zisch-Effekten, ähnlich wie in Robert Wilsons Meisterwerken. Kein Wunder, trat Kaczmarczyk doch bereits in Düsseldorfer Kassenschlagern, wie „Sandmann“, des amerikanischen Starregisseurs auf. Doch er kopiert Wilson nicht, sondern schafft mit relativ dosierter Bühnen-Technik ein eigenes, suggestives Wunderland für mehrere Generation.

Die Premiere (nur 180 Plätze durften besetzt werden) war wegen des bevorstehenden Corona-Kurz-Lockdowns bis Ende November die letzte. Bevor der Vorhang am Montag wieder fällt (obwohl Theater mit strengen Sicherheitskonzepten in Pandemie-Zeiten als Orte gelten, in denen sich bislang niemand infiziert hat) entführte Kaczmarczyk in Alice‘ Welt, in der die Zeit die Uhren umstellt und Paris plötzlich Hauptstadt von London ist.

In Corona-Zeiten wäre Alice eigentlich ein idealer Fluchtort, denkt man. Doch, wie Intendant Wilfried Schulz vor der Premiere sagte: „Wir sind zwar in einem großen Dilemma.“ Aber auch sein Haus müsse einen Beitrag leisten, um die Virus-Verbreitung zu verhindern.

Regisseur tritt selber als Hutmacher auf

Sei’s drum. Kaczmarczyk - selbst als tüdeliger Hutmacher und als Kassandra mit weiß polaren Haaren in Gestalt der „falschen Suppenschildkröte“ im Einsatz - zaubert seiner Alice aber keine chillige, sanfte Welt in Watte, sondern sein Wunderland ist voll von schrägen, schrillen und schrulligen Nervensägen, und manchmal auch garstigen Typen, die spitzzüngigen Sprachwitz zelebrieren.

„Zack Zack! Kopf ab!“ Aber auch voller hintergründiger Poesie und Weltschmerz-Melancholie, Tränenfee und Tränensee inklusive. Doch zwängt das Regieteam den Klassiker aus dem viktorianischen England nicht in ein modernes Prada-Kostüm, sondern kreiert mit beinah zeitlosen, aber überdrehten Märchenfiguren eine traumwandlerische Atmosphäre und Momente fernab von Raum und Zeit. So wird die Wirklichkeit verrückt - wenn die Nachtfalter ins Licht fliegen, das Weiße Kaninchen (Kilian Ponert) sich verführerisch als Jüngling auf einem Felsen streckt oder die Raupe (Claudia Hübbecker) wie eine Stummfilm-Diva mit ellenlanger Zigarettenspitze posiert und Alice gute Ratschläge gibt.

Ein Glücksfall ist Lou Strenger in der Titelpartie. Sie ist ein Mädchen unserer Tage – selbstbestimmt, unerschrocken, dann wieder verstört und sanft – zumal, wenn sie in einigen Bildern wie ein verletztes Wesen durch ihre Rätselwelt tänzelt. Überzeugend und stark wirken ihre Songs, in denen sie die Zuschauer mitnimmt auf ihre Grenzgänge zwischen Traum und Wirklichkeit.

Am Ende: Jubel und Begeisterung.

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