Leere Tanzflächen Technobeats hinter Kühlschranktür - Clubszene streamt fürs Überleben

Berlin · Corona sorgt für leere Tanzflächen in Berlins gefeierter Szene. Doch die Clubs wollen sich dem Virus nicht beugen. Ein Besuch beim nächtlichen Streaming gegen den Kollaps.

 Die DJs Antonio Onio (l) alias Onio und Alyha Love alias Yha Yha legen im Club "Melancholie 2" für das Musikprojekt #UnitedWeStream auf. B

Die DJs Antonio Onio (l) alias Onio und Alyha Love alias Yha Yha legen im Club "Melancholie 2" für das Musikprojekt #UnitedWeStream auf. B

Foto: dpa/Britta Pedersen

Der Weg ins „Melancholie 2“ hat für internationale Clubgänger einschlägige Berlin-Klischees parat. Ein Späti im unscheinbaren Abrissbau bietet alles, was nach Ladenschluss für die Nacht noch gebraucht werden könnte. Seine Spezialität hat dieser Laden irgendwo an der Frontline zwischen Mitte und Kreuzberg nahe der Spree hinter einer übermannshohen Kühlschranktür versteckt. Vorbei am Flaschenbiersortiment geht es in den kleinen Club, der in dieser Nacht per vielgeklicktem Streaming das Zentrum einer globalen Partygemeinde werden soll.

Im „Melancholie 2“ wird heute fünf Stunden lang produziert, was seit Wochen als #UnitedWeStream die coronabedingt isolierten Raver in ihren Wohnzimmern als Livesendung per Internet, TV- oder Radiokanal erreicht. Die Berliner Clubcommission, ein Zusammenschluss vieler der mehr als 300 Clubs der Stadt, will mit dem täglichen Stream die Verbindung halten: „Ohne Anstehen, mit access all areas.“

Bis zu 200 Tanzwütige darf Florian Lebruman sonst ins „Melancholie 2“ reinlassen. Sonst heißt hier wie in vielen vergleichbaren Clubs: meist donnerstags bis samstags gibt es Techno, House, Disco-Tech, E-Beat. Doch auch heute bleiben die wenigen Quadratmeter Dancefloor leer. Wie alle anderen Clubs der weltweit gerühmten Berliner Nachtszene ist das „Melancholie 2“ seit Wochen geschlossen.

Manager Lebruman ist auf Kurzarbeit, etwa zehn freie Mitarbeiter müssen sich irgendwie durchschlagen. Laut Clubcommission sind von der Auszeit für das Berliner Nachtleben etwa 9000 Mitarbeiter und rund 20 000 Künstlerinnen und Künstler betroffen.

Im Hintergrund eröffnet eine davon gerade das abendliche Line-up. Daniela Bundschus mischt ihre Musik als Daniela La Luz aus zwölf Spuren gleichzeitig in Club-Boxen und Wohnzimmer-Stream. Jenseits des heutigen Abends hat sie „alles erstmal auf Hold“ gesetzt. Als selbstständige Kleinunternehmerin kann sie 5000 Euro Unterstützung beantragen.

„Soforthilfe II“ nennt sich das. Zudem gibt es einen Liquiditätsfonds mit 100 Millionen Euro, auch für die Clubs. Das jüngste Programm mit 30 Millionen Euro wendet sich an Kulturunternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern und bis zu zehn Millionen Euro Jahresumsatz. Mehr als einen Flickenteppich wird auch Corona nicht zulassen.

Im Stream aus dem „Melancholie 2“ hat inzwischen Landon Whittaker als Dirty Daddy Don übernommen. „Es ist komisch, wenn keine Menschen um dich herum tanzen“, sagt der 32-Jährige. Er steht auf verschwitzte, leicht runtergekommene Clubs.

Vor ihm täuschen Spiegel an den niedrigen Wänden etwas mehr Platz vor. Als „Melancholie“ war das mal eine Shisha-Bar. Schalensessel vor Holztischen, Fake-Kamin, klassisch angehauchte Mini-Säulen. Den aufgesetzten Schick hat die Nachtszene im „Melancholie 2“ weggetanzt. Wo früher Spielautomaten standen, ist jetzt der Späti. Solche etwas abgerissenen Läden gelten als typisch Berlin.

Enge Räume, viel Körperkontakt, durch laute Musik notwendig nahe Gespräche - all das macht Clubs zu leichter Beute für das Virus. Von den Anfang März 263 ersten bestätigten Fällen in Berlin kamen 42 aus einem Club. Zuvor war Party in der „Trompete“. Nachdem ein Besucher des „Kater Blau“ positiv getestet war, suchte das zuständige Gesundheitsamt Friedrichshain-Kreuzberg die Gäste von zwei Nächten.

„Wir waren die ersten, die zugemacht haben, und werden wohl die letzten sein, die wieder aufmachen können“, fasst die Chefin des „Gretchen“, Pamela Schobeß, die Lage der Clubs zusammen. Angesichts der Finanzlage gerade kulturell orientierter Clubs mit dünner Kapitaldecke ist für sie allerdings die Frage, „ob es uns alle überhaupt noch gibt, wenn wir wieder aufmachen dürfen“.

Mit den Schließungen sind die Umsätze eingebrochen. Laufende Kosten eines Clubs wie das „Watergate“ mit 70 bis 80 festen Mitarbeitern liegen laut Clubcommission bei monatlich etwa 120 000 Euro. Das „Berghain“, Magnet für globale Partygänger, hat etwa 350 Mitarbeiter.

Auch jenseits des Virus ist die Szene bedroht. Ums Eck vom „Melancholie 2“ liegt das „Sage“, ein Schwesterclub. Dort hat auch der „KitKat Club“ Unterschlupf gefunden, dessen Ruf aus Zeiten stammt, als nackte Haut im Club noch als verrucht galt. Das gesamte Ensemble steht in Frage. Berlin boomt, ein Investor will auf dem Grundstück ein Hotel errichten. Solche Verdrängungsprobleme haben einige Clubs in Berlin, die mitunter in lange Zeit von Investoren unbeachteten Ecken auf scheinbarem Niemandsland zu blühen begannen.

Hinter den Hirschgeweihen des leuchtenden DJ-Pults im „Melancholie 2“ nimmt Berlins Internationalität ihren Lauf. Nach Whittaker aus Kanada und Großbritannien in Person von Timothy Jose „TJ“ Hertz alias Objekt übernimmt jetzt der als LSDXOXO auftretende New Yorker Rashad Glasgow. Zwischen den Sets werden Regler, Player, Mixer schnell desinfiziert.

Die Commission hat für die Streamings aus den leeren Clubs klare Regeln aufgestellt. Desinfektionsmittel und Einmalhandschuhe liegen auf einem kleinen Bartisch bereit. „Schutzmasken überlassen wir den Künstlern“, sagt Katharin Ahrend. An diesem Abend werden alle am Pult welche tragen. Die 32-Jährige ist von der Clubcommission vorbeigekommen. Abstand werde immer wichtiger bei den Streamings, berichtet sie, weswegen enge Räumlichkeiten nicht mehr gingen.

Auf einer Empore mischen die AV-Techniker Joshua Behrens und Nils Werner derweil die Bilder der vier Kameras. „Wir haben für die Streams ein gemeinsames technisches Set-up entwickelt“, erläutert Mark Rump das Konzept seines Instituts für Bildbewegung. Kameras, Monitore, Rechner, Equipment lassen sich in kurzer Zeit auf- und zusammenbauen und in einem Auto verstauen. Fertig für den nächsten Club. Dies ist der 20. Abend in Folge.

Unterstützt wird die Streaming-Aktion von mehreren Medien wie Arte Concert, radioeins (vom RBB), FluxFM oder Alex TV. Allein bei Arte wird das Video an diesem Abend rund 80 000 Mal aufgerufen. In der ersten Woche mit Übertragungen aus Clubs wie „Watergate“, „Tresor“, „Alte Münze“, „Kater Blau“, „Griessmühle“ oder „Wilde Renate“ gab es mehr als 1,7 Millionen Videoaufrufe.

Neben den Live-Bildern können Lichteffekte am Mischpult eingespielt werden. An diesem Abend gibt es noch mehr zu mischen: Auf einer zweiten Empore begleiten Tänzer abwechselnd die DJ-Sets. Jade Lee Petersen verdingt sich sonst als Schlangenmensch in Shows, Kevin Bonono steht auch mal als Barmann im „Melancholie 2“. Tanzen fürs Streaming statt im vollen Club finden beide ungewohnt, aber „so haben wir viel Platz, um zu improvisieren“.

Die Quellen für das tägliche #UnitedWeStream reichen inzwischen über Berlin hinaus. DJ-Sets kommen auch mal aus Hamburg, München, Stuttgart oder Wien. Zudem informiert die Clubcommission bei #UnitedWeTalk mit Beiträgen, Diskussionen und Schalten zu wechselnden Schwerpunktthemen wie die Lage von Künstlern oder Flüchtlingshilfe.

Dabei geht es auch um Geld. Bisher wurden über den Stream knapp 400 000 Euro eingesammelt. Fast 13 000 mal haben Unterstützer den Spende-Button angeklickt. Ein Team der Clubcommission macht sich Gedanken, nach welchen Kriterien der Support wohin fließen soll. Schließlich haben alle dramatische Einbußen. Soviel ist sicher: ein Teil der Spenden geht an Seenotretter im Mittelmeer. Für die Commission ein Zeichen gelebter Solidarität nicht nur untereinander, sondern auch für Menschen, denen es noch schlechter geht.

Eine funktionierende Clubszene ist für Berlin auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Nach einer Studie haben die Clubs zuletzt rund drei Millionen Touristen in einem Jahr in die Stadt gelockt. Die feiernden Gäste sorgen für rund 1,48 Milliarden Euro Umsatz im Transport-, Gastronomie- und Gastgewerbe. Die Clubszene allein hat danach 168 Millionen Euro umgesetzt.

Für manche unter den Partypeople geht es auch ohne großes Budget. Sie reisen für ein paar Tage per Billigflieger aus Madrid, Rom, Paris oder einem Provinzort an. Manche verzichten sogar auf eines der günstigen Hostels. Wer einmal im Club ist, kann auch tagelang durchfeiern. Einschlägige Mittelchen zur Unterstützung solcher Eskapaden sind in der Szene nicht schwer zu finden.

Zum Finale der gestreamten Nacht haben Antonio Onio und Alyha Love alias Yha Yha das DJ-Pult übernommen. Zu schnellen Beats kommen jetzt falsche Wimpern über strassbesetzter Schutzmaske. Schräg über ihnen wechseln sich die Tänzer weiter ab. Im „Melancholie 2“ endet das Streaming wieder um Mitternacht. Die Szene macht weiter. „Bis Mitte Mai steht das Programm“, verrät Katharin Ahrend. Ein besonderer Blick hinter sonst schwer verschlossene Türen steht noch aus: Das international gefeierte Szene-Flaggschiff „Berghain“ hat seine Mitwirkung aber schon angekündigt.

(dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Liebe und Hass in der Vorstadt
Peter Kurth und Peter Schneider ermitteln im „Polizeiruf“ nach einem Kindsmord in Halle/Saale Liebe und Hass in der Vorstadt
Zum Thema
Aus dem Ressort