Tanzfestival Tanzplattform: „Kreatur“ von Sasha Waltz - Ein düsteres Stück über die zerissene Gesellschaft

Das Gastspiel „Kreatur“ von Star-Choreografin Sasha Waltz liefert einen Höhepunkt des Festivals Tanzplattform Deutschland. Die Produktion spiegelt die zerrissene Gesellschaft unserer Zeit.

Tanzfestival: Tanzplattform: „Kreatur“ von Sasha Waltz - Ein düsteres Stück über die zerissene Gesellschaft
Foto: Sebastian Bolesch

Essen. Scharen von Tanzfans durchstreifen derzeit das Unesco-Weltkulturerbe Zollverein. Ihr Stimmengewirr belebt das sonst so stille Industriedenkmal. Das Zechengelände ist Festivalzentrum der 14. Ausgabe der Tanzplattform Deutschland. Im Ruhrgebiet präsentiert die Biennale für zeitgenössischen Tanz — made in Germany — noch bis morgen die Best-of-Produktionen der vergangenen zwei Jahre. Wobei die Auswahl der Jury für das Gipfeltreffen der Tanzmacher diesmal in der Szene auch auf Kritik stößt. Die Qualität der einen oder anderen Arbeit wird durchaus — und zu Recht — bemängelt.

Die Bandbreite reicht von Nachwuchs bis Prominenz und von dekonstruiertem Ballett über choreografiertes Essay bis zu gesellschaftspolitischer Performance. Ob alte Waschkaue, ehemaliges Salzlager der Kokerei oder architektonisch beeindruckender Sanaa-Kubus — überall bewegte Kunst, dazu originelle Gesprächsformate mit Publikum, Künstlern und Theoretikern.

Einen Höhepunkt im Festivalkalender markierte das Gastspiel der Berliner Choreografin Sasha Waltz im Aalto Theater in Essen. Die Einladung der künftigen Co-Direktorin das Berliner Staatsballetts ist gewiss unumstritten, die neue Produktion bietet allerdings Stoff für kontroverse Gespräche.

Als die junge Choreografin am Anfang ihrer Karriere stand und mit ihren witzig-absurden Arbeiten als aufregendste Tanz-Theater-Erneuerin seit Pina Bausch galt, kehrte sie dem Hype Ende der 1990er Jahre vorübergehend den Rücken. Sie zog mit ihrem Ensemble „Sasha Waltz & Guests“ in das Gutshaus des Theaterreformers Stanislawski bei Moskau und probte „Na zemlje“. Ein gewalttätiges Stück, das das Urvieh im Menschen ausstellt, in naturalistischer Kulisse mit Heuhaufen. Heute, 20 Jahre später, präsentiert die zum internationalen Star gereifte Künstlerin das „erwachsene“ Pendant: Das Gastspiel ihres jüngsten Werks „Kreatur“ im Aalto-Theater im Rahmen der Tanzplattform Deutschland zeigt die konsequente Entwicklung der Ausnahme-Choreografin.

Die Themen sind ähnlich, doch die Ästhetiken könnten unterschiedlicher kaum sein. „Kreatur“ wäre ein Meisterwerk der tänzerischen Abstraktion, würde es sich nicht über 90 Minuten zerdehnen und so seinen faszinierenden Momenten viel Kraft nehmen.

Eingesponnen in filigrane Kokons, betreten einige Tänzer den offenen, fast leeren Raum. Nach und nach befreien sie sich von ihren originellen Hüllen aus dem Atelier der niederländischen Modedesignerin Iris van Herpen. Aus Larven entwickeln sich nur mit hautfarbenen Slips bekleidete Wesen. Zunächst noch grob motorisch, später dann überwiegend geschmeidig, bewegen sie sich in ihrem hermetischen Kunst-Kosmos. Es ist die Welt einer zerrissenen Gesellschaft, der Menschheit schlechthin, die Sasha Waltz da so elegant skizziert. Ein durchkomponiertes, intelligentes Konstrukt, angefüllt mit all den widersprüchlichen Ausformungen unserer Existenz: Zuwendung, Erotik, Zusammenhalt, aber auch Gewalt, Herrschsucht, Mobbing und Ausgrenzung. Präzise formuliert Waltz die Tanzsequenzen aus, insbesondere die Ensembles. Mit beeindruckender Beiläufigkeit lässt sie die Szenen organisch ineinander fließen und führt neue Figuren ein.

Den stärksten Auftritt hat ein Stachelwesen, eine Figur in schwarzem Ganzkörpertrikot, Kopf und Gesicht inklusive, das mit biegsamen Metallstäben gespickt ist — das Kostüm als Waffe. Das Wesen symbolisiert den Fremden, den Ausgegrenzten. Er nähert sich mit der Gruppe mit seinen schmerzhaften Stacheln zwischen Schikane und Annäherungsversuch. Dabei fühlt er sich sichtlich unwohl in seiner Haut.

Konkreter noch greift der Abend die Flüchtlingsproblematik auf. Die Kreaturen drängeln sich ängstlich auf der Treppe. Oben angekommen, beherrscht sie die Angst hinabzufallen. Wer droht zu stürzen, wird angestrengt wieder hochgezogen.

Zwischen diesen starken Momenten wiederholt sich das ästhetisierte Alltagsverhalten zu einer sphärischen Klangkomposition des Soundwalk Collectives in immer neuen Variationen. Man wird ihrer überdrüssig, bevor der nächste Impuls wieder fesselt. So hat man Meisterhaftes erlebt, sich zwischendurch aber auch immer ein bisschen gelangweilt.

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