Sinologe Wolfgang Kubin: „Nur Chinas Lyrik hat Qualität“

Wolfgang Kubin wirft den im Westen boomenden Erzählern aus dem Reich der Mitte Handwerk ohne jede Tiefe vor.

Düsseldorf. Trotz der Skandale um den Ehrengast China werde die Frankfurter Buchmesse für die chinesische Literatur " sehr Fruchtbar sein. Davon ist Wolfgang Kubin, einer der bedeutendsten Sinologen, überzeugt. Wir sprachen mit ihm im Düsseldorfer Konfuzius-Institut.

Herr Kubin, Sie haben die Einladung Chinas zur Frankfurter Buchmesse begrüßt.

Kubin: Ja. Natürlich.

Kubin: Die Begegnung zwischen den chinesischen Schriftstellern und den hiesigen Lesern, den Interessenten, war wichtig. Ich gehe davon aus, dass langfristig untern den Literaten Chinas ein Umdenken einsetzen wird. Die Veränderung kann man nicht von heute auf morgen beobachten. Ich erlebe aber, dass inzwischen in China die einen oder anderen doch sehr kritisch über sehr angesehene Literaten reden, die ganz blind aus meiner Sicht auf der Frankfurter Buchmesse gesagt haben, nie habe es die chinesische Literatur besser gehabt als in gegenwärtigen Zeiten. Da gab es ein großes Aufbäumen in China, dass man einen solchen Unsinn, wie ihn ein bekannter chinesischer Schriftsteller in Frankfurt vertreten hat, einfach nicht in die Welt setzen darf.

Kubin: Ja. Und dass diese Kritik von chinesischer Seite unmittelbar nach dieser Rede sehr impulsiv kam, das zeigt, dass da ein Umdenken eingesetzt hat. Denn normalerweise hätte man sich denken können, die Kritiker warten noch eine gewisse Zeit, ehe sie ihren Unmut äußern. Dieser Mann war ja früher Minister gewesen. Eigentlich hätte man sich nicht so unmittelbar äußern dürfen. Dieser Mann ist 70, und gegenüber Älteren äußert man sich nicht so schnell und so kritisch.

Kubin: Naja, China hat ja nicht die besten Schriftsteller mitgebracht, über die es verfügt. Es hat keinen einzigen richtig guten weltweit anerkannten Dichter mitgebracht. Damit hätte man punkten können. Es hat sie alle zu Hause gelassen, stattdessen die Wald- und Wiesendichter mitgeschleppt, die keiner kennt und keiner hören will. Ich habe ja an jedem Tag Veranstaltungen auf der Frankfurter Buchmesse gehabt, und als ich am Sonntag meine Geschichte der chinesischen Literatur in zehn Bänden vorstellte, da dachte ich, da kommen zehn Leute, da kamen 200. So war es jeden Tag. Und unter dem Publikum waren viele, viele Chinesen. Das heißt, letzten Endes ist diese Buchmesse für China in einem anderen, aber doch in einem guten Sinne sehr fruchtbar gewesen. Das wirkt lange nach und wird Früchte zeigen. Da bin ich ganz sicher.

Kubin: Die Frage ist, welche chinesische Literatur boomt. Es ist eine Literatur, die bei uns nicht unbedingt als ernste Literatur rezipiert wird, sondern als Unterhaltungsliteratur. In der Regel ist es so, dass unter Literatur nicht nur in China, sondern auch bei uns der Roman, auch die Erzählung verstanden wird. Lyrik, Theater und Essayistik gelten gar nicht mehr als Literatur. Und die deutsche Leserschaft vermisst bei den deutschen Literaten etwas, was sie bei den chinesischen Erzählern findet: Geschichten. Deutsche Literaten erzählen keine Geschichten mehr, Geschichtenerzählen ist langweilig, ist verpönt, ist Handwerk. Und die chinesischen Erzähler betreiben dieses Handwerk, in dem sie das schreiben, was ich Saga nenne, nämlich Familiengeschichten über 100 Jahre, über drei Generationen, mit 100 Personen.

Kubin: Aus meiner Sicht ist das alles Handwerk, es geht nicht in die Tiefe. Als Schriftsteller hat man sich zu konzentrieren auf eine Person, auf eine Sache und dort vor allem sprachlich in die Tiefe zu gehen. Das sprachliche Rüstzeug der gegenwärtigen chinesischen Erzähler kann sich nicht vergleichen mit der modernen Literatur, wie sie in China vor 1949 betrieben wurde oder wie sie in Deutschland seit den 80er Jahren betrieben wird.

Kubin: Der Bruch setzt schon vorher mit dem Jahr 1989 ein, mit der Enttäuschung über die Niederschlagung der Demokratiebewegung. Und danach hat der chinesische Staat die Schriftsteller aufgefordert, in ihrem Sinne Literatur zu schreiben, eine Militärliteratur. Dazu waren sie nicht willens. 1992 hat dann der Reformer Deng Xiaoping die Reise in den Süden angetreten und gesagt, reich werden ist verdienstvoll, arm sein ist Schande. Und dann haben die Literaten zu Hunderten und Tausenden die Literatur verlassen, um reich zu werden, und sie sind reich geworden. Es gibt heute eine neue Mittelschicht, zu der auch die Literaten gehören, die vielleicht gar nicht mehr schreiben und die Geld verdienen wollen. Sie wollen keine große Kunst produzieren. Wenn sie große Kunst produzieren wie die Dichter, die weltweit anerkannt sind, verdienen sie keinen Pfennig. Also produzieren sie für den Markt oder die Filmindustrie, Drehbücher. Das ist eine bewusste Entscheidung. Das heißt, die Erzähler, die bei uns bekannt sind, wissen genau, wie sie für den Westen zu schreiben haben, was ankommt, was nicht ankommt. Sie dienen nicht der Literatur, sie dienen dem Markt.

Kubin: Das ist richtig. Dann macht er Kasse im Westen. Aber nur, wenn er Erzählungen schreibt. Der Westen interessiert sich ja gar nicht für die Wahrheit. Wenn jemand sagt, ich bin Dissident, dann wird ihm das abgenommen, es wird nicht überprüft, das war der Fall bei dem Skandal auf der Buchmesse mit Bei Ling, der ist überhaupt kein Dissident, der ist 1988 bereitwillig ausgewandert nach Amerika, und er hat genau gewusst, was er sagen muss, um die Presse hier zu bedienen und entsprechend finanziell abzukassieren.

Kubin: Derjenige, der jetzt im Gefängnis sitzt, Liu Xiaobo (Mitunterzeichner des Bürgerrechtsmanifests Charta 08, Anm. d. Red.), das wäre ein echter Dissident. Aber die meisten sogenannten Dissidenten lehnen auch für sich selber die Bezeichnung Dissident ab, weil sie zwischen den beiden Welten hin und her pendeln und von beiden Seiten die Vorteile einheimsen. In China das gute Essen, das bequeme Leben, und bei uns eben das Geld, was sich auszahlt, wenn man sagt, man ist Dissident.

Kubin: Das ist richtig.

Kubin: Im Lande null, aber bei uns ganz oben. Im Lande null, weil die Dichter eine neue Sprache erfinden, die dort nicht nachvollzogen werden kann, und weil wir hier diese Sprache nachvollziehen können. Wir wollen gefordert werden, wir wollen nicht mehr diese einfache Literatur, die einmal ein Erich Fried geschrieben hat, den 70er-Jahre Agitprop, wo man überhaupt nicht nachdenken muss. Wir wollen heute Anspruchsvolles. Wenn die chinesischen Dichter hier auftreten, dann will das Publikum gefordert werden. Es will nicht mehr dieses simple Deutsch hören oder dieses simple Chinesisch, sondern es will auch mal nachdenken dürfen.

Kubin: Das ist in China überhaupt nicht entwickelt. Weil eben der Markt alles dominiert und jeder nur noch sich dumm und dämlich verdienen will.

Kubin: Die war nachdenklich, bis 1989. Die war kompliziert, aber sie hatte ihr Publikum. Und da gingen Tausende zu den Lesungen. Und heute geht niemand zu den Lesungen, die Leser sind heute hier bei uns.

Kubin: Ich muss jetzt gerecht sein. Die deutsche Presse hat sehr viel die Erzähler gelobt, die ich nicht so lobe. Ich bin also eine Mindermeinung, und von denen die ich lobe, ist nur ein Werk vorgestellt worden, als vorbildhaft und lesenswert hingestellt worden, das war dieses Buch von Yang Lian über den dämonischen Geist. Wenn ich vom Niedergang der Erzählkunst spreche, da werden andere möglicherweise gar nicht zustimmen. Hans Christoph Buch, der Berliner Schriftsteller, war der Meinung, dass Yu Huas Roman "Brüder" ein gutes Werk sei, und vielleicht habe ich ja Unrecht. Deshalb müssen Sie also meine Meinung kritisch überprüfen, ob sie wirklich hieb- und stichfest ist.

Kubin: Ja, da empfehle ich ja wieder meine eigenen Übersetzungen, und das ist ja nicht ganz richtig. Das ist ja mein Manko. Ich kann mich ja nicht dauernd über den grünen Klee loben. Na gut, dann kann man nach wie vor sagen, Bei Dao, Leung Ping-kwan und auch Yang Lian oder auch das Buch "Alles versteht sich auf Verrat", das sind wirklich tolle Texte, und die deutschen Dichter sind einfach restlos begeistert.

Kubin: Ja, das ist schwere Kost. Aber Champions-League kann man auch nicht einfach nachspielen. Da staunt man doch auch, was da passiert.

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