Muttertag „Muttersein ist leichter als vor 100 Jahren“

Die Soziologin Birgitt Riegraf spricht zum Muttertag am Sonntag über Emanzipation, Erziehung und das Weltbild.

Muttertag: „Muttersein ist leichter als vor 100 Jahren“
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Frau Riegraf, Sie sind Präsidentin der Universität Paderborn. Wie feiern Sie Muttertag?

Birgitt Riegraf: Ich feiere ihn gar nicht, weil er für mich keine Rolle spielt. Dennoch werde ich am Sonntag meine Mutter anrufen und ihr die Anerkennung zollen, die sie verdient hat.

Warum tun Sie sich so schwer mit dem Muttertag?

Riegraf: Der Muttertag, wie er heute begangen wird, hat seine eigentliche Bedeutung verloren. Der Ursprung des Muttertags stammt aus der Frauenbewegung in Amerika ab 1872. Frauen wie Julia Ward Howe wollten darauf aufmerksam machen, welch enorme Leistungen Frauen im Alltag leisten. Sie wollten all die unbezahlte Arbeit, sprich Haushaltsführung und Kindererziehung, unter damals schwierigen hygienischen Verhältnissen, sichtbar machen. Damit einhergingen natürlich Forderungen nach Verbesserungen, auch um die zu dieser Zeit hohe Kindersterblichkeit zu senken. Über England schwappte der Muttertag im Jahr 1922 nach Deutschland herüber. Doch hier angekommen, wurde er von Anfang an sehr stark mit der Blumenindustrie verknüpft und kommerzialisiert.

Was haben die Nationalsozialisten aus dem Muttertag gemacht?

Riegraf: Die Nationalsozialisten haben mit dem emanzipatorischen Gedanken des Muttertags gebrochen. Sie haben stattdessen den Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mutter eingeführt. Dabei wurde das Ideal der deutschen Mutter propagiert, die möglichst viele arische Kinder gebärt und sich für die Erziehung dieser, die Familie und das deutsche Volk aufgibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte man in West-Deutschland schließlich wieder zum Muttertag zurück. In der DDR hingegen wurde er durch den Internationalen Frauentag ersetzt.

Hatte die DDR in Sachen Mutterrolle dem Westen denn etwas voraus?

Riegraf: Nein. Zwar war es in der DDR selbstverständlich, dass beide Elternteile voll erwerbstätig sind. Dennoch blieben die Haushaltsführung und auch die Kindererziehung über die Schule und Krippen hinaus die Aufgaben der Mutter. Im Westen wurde in den 1960er und 1970er Jahren das Familienbild geprägt: Vater, Mutter und zwei Kinder. Dabei ist der Vater immer größer als die Mutter. Das erste Kind ist ein Junge, gefolgt von einem zwei Jahre jüngeren Mädchen. Der Mann ist voll erwerbstätig, die Frau höchstens halbtägig auf der Arbeit. Aber auch erst, wenn die Kinder zu Jugendlichen herangewachsen sind, damit die Frau dem Anspruch als Mutter und Hausfrau gerecht wird. Wohlfahrtsstaat und Steuerpolitik haben dieses Familienbild bis in die 1990er Jahre gefördert.

Welche Zukunft hat der Muttertag?

Riegraf: Es gibt derzeit zwei Strömungen in unserer Gesellschaft. Zum einen die Auflösung der traditionellen Klein-Familie insbesondere in Großstädten, zum anderen die Rückkehr zu Familientraditionen. Für Bevölkerungskreise, die zu letzterer Strömung tendieren und von einer heilen Welt träumen, wird der Muttertag auch in Zukunft eine Bedeutung haben und von ihnen gepflegt werden. Für die anderen wird er keine Rolle spielen.

Wenn der emanzipatorische Hintergrund des Muttertags wieder in den Vordergrund rücken würde, welche Probleme müssten heute sichtbar gemacht werden?

Riegraf: Die ungleiche Bezahlung von erwerbstätigen Frauen. Die Erziehungsarbeit von Kindern. Sowie das Thema Pflege: Schließlich sind es derzeit vor allem Frauen, die sich um pflegebedürftige Familienmitglieder zu Hause kümmern. Außerdem ist das Mutterbild in der Gesellschaft komplett überholt. Sie ist mehr als das Klischee von der Hausfrau.

Was ist für Sie ein modernes Mutterbild?

Riegraf: Es ist ein vielfältiges. Frauen sind mehr als die Bestimmung, Mutter zu sein. Frauen in Führungspositionen ohne Kinder müssen genauso von der Gesellschaft anerkannt werden wie Frauen, die sich bewusst entscheiden den Haushalt zu schmeißen und die Kinder groß zu ziehen. Sie geben ihrem Leben die Richtung vor und nicht die Gesellschaft, in dem sie moralischen Druck auf die Frauen aufbaut.

Glauben Sie, Mütter haben es heute leichter als noch vor 100 Jahren?

Riegraf: Ja, sie haben es heute leichter, weil es ein zunehmendes Bewusstsein für ihre Situation gibt. Gleichzeitig wird ihnen jedoch eine enorme Doppelbelastung mit Beruf und Erziehung sowie Haushalt zugemutet. Jedoch gibt es Hoffnung und Entlastung: Das Vaterbild hat sich nämlich gewandelt. Noch in den 1960ern war es unmännlich und lächerlich, sich als Mann mit einem Kinderwagen in der Öffentlichkeit zu bewegen.

Am vergangenen Donnerstag sind Väter samt Bollerwagen durch die Lande gezogen. Inwieweit unterscheiden sich beide Anlässe?

Riegraf: Am Muttertag wird die von der Mutter für die Gesellschaft so bedeutsame Arbeit geehrt. Am Vatertag hingegen bestätigen sich Männergruppen ihrer Männlichkeit und versichern sich ihrer gegenseitigen Freundschaft.

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