Thom Yorke: Ein Genie zwischen den Fronten

Radiohead-Frontmann Thom Yorke hat seine Nebenband Atoms For Peace zu einem eigenen Album getrieben. Das Ergebnis war zu erwarten: ein weiteres Meisterwerk.

Düsseldorf. Fast sechs Jahre ist es her, dass Radiohead-Frontmann Thom Yorke mit seinem ersten Soloalbum „The Eraser“ tiefer ins Genre des elektronischen Indie-Rocks eintauchte. Damals schuf der englische Ausnahmekünstler neun nervös flirrende, piepsende, pochende Stücke, deren jazziges Gerüst mit unaufdringlich-schönen Melodien ausgestattet war.

Auch wenn Yorke von Beginn an klarstellte, dass „The Eraser“ nicht als Start einer Solokarriere zu verstehen sei und Radiohead nach wie vor Priorität hätten, lief das Album doch unter seinem eigenen Namen. Dabei arbeitet der seit fast 30 Jahren aktive Musiker selten allein. Ohne Produzent Nigel Godrich, der als sechstes Bandmitglied gilt, würde Radiohead nicht nur die typische Soundnote fehlen.

Seit Godrich bei „The Bends“ (1995) einer der Toningenieure war, haben sich ihre Wege nie getrennt. War er bei „OK Computer“ (1997) noch assistierender Produzent, übergaben ihm Radiohead ab „Kid A“ (2000) Platte für Platte die volle Kontrolle über die Produktion ihrer Musik. Auch „The Eraser“ ließ Yorke „nigeln“, wie er es nennt.

Und um die Musik einem größeren Publikum live vorzustellen, rekrutierte der Sänger im Oktober 2009 seine eigene Supergroup, die heutigen Atoms For Peace, zu denen natürlich auch Godrich zählt.

Während Yorke Gitarre, Klavier und Gesang beisteuert, ist Godrich für die Instrumente Gitarre, Keyboards und Synthesizer zuständig. Dazu kommen Flea von den Red Hot Chili Peppers, der den Bass zupft, Joey Waronker von R.E.M., der das Schlagzeug bearbeitet, und der Brasilianer Mauro Refosco, der auf den Percussions zaubert und das auch schon für andere bedeutende Musiker tat, beispielsweise David Byrne.

Aus dieser starken Mischung an Individualisten, die weit über den Zeitpunkt ihrer Gründung hinaus auf Konzert- und Festivalplakaten schlicht als „??????“ oder „Thom Yorke ????“ benannt wurde, hat sich eine feste Band geformt, die nun den inoffiziellen Nachfolger von „The Eraser“ veröffentlicht: „Amok“.

Inoffiziell, weil der Name Atoms For Peace dem Titel eines Tracks entnommen ist, der bereits auf „The Eraser“ zu finden war. Der Song handelt von Lug und Trug. Sein Titel verweist auf eine Rede, die US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 vor der Uno hielt. Thema: die friedliche Nutzung der Kernernergie.

„Wir hatten einfach absoluten Spaß, als wir 2010 zusammen auf Tour waren“, erzählt Thom Yorke im Kreise der Kollegen während eines Interviews mit dem öffentlich-rechtlichen US-Radiosender NPR. „Deshalb gingen wir ins Studio mit so gut wie keinen Ideen. Alles, was wir hatten, waren ein paar winzige Laptop-Stückchen von Mauro.“

Um die Bandchemie von Atoms for Peace zu beschreiben, erklärt Yorke die kreative Zusammenarbeit am ersten Track von „Amok“, „Before Your Very Eyes“, der mit hektisch-rhythmischen Gitarren und abgehackten Beats beginnt: „Anfangs war er nicht mehr als der Entwurf eines Rhythmus“, so der Künstler. „Dann haben Joey und Mauro etwas total Freakiges daraus gemacht und es ausgearbeitet. Wir anderen haben dann gewissermaßen darauf geantwortet.“

Ein kleines bisschen Piano kam hinzu, auf dessen Tönen Flea seinen Bass aufbaute. Godrich malte den Hintergrund mit Synthesizer-Klängen aus, und Yorke sang dazu mit seiner unnachahmlich intensiven Art. Auf diese Weise entstanden neun experimentelle elektronisch-akustische Stücke mit 45 Minuten Spielzeit.

Die Ideen zu den Songs kamen wie von selbst: In drei vollen Probetagen generierte die Band massig Material. Zur Sondierung dieser geradezu unüberschaubaren Menge kam Sound-Spürhund Godrich ins Spiel und hob die Juwelen. „Wenn etwas vorüberzog, haben wir es herausgepickt und intensiver bearbeitet“, erklärt er. Aus dem schließlich gewonnenen Klangdestillat formte Yorke dann noch die Melodien. Hört sich leicht an, das Ergebnis klingt allerdings höchst kompliziert.

Die verschachtelten Tracks auf „Amok“, die schrägen Beats, die jazzigen Stimmungen und die überraschenden Melodien erschließen sich nicht direkt beim ersten Durchhören. Genau das macht aber auch die individuelle Klasse der beteiligten Persönlichkeiten aus. Ihr homogenes Ineinandergreifen zeigt, dass die Bandchemie von Atoms For Peace eigentümlich, aber reibungslos funktioniert — ein Genuss für Fans kunstvoller Rockmusik.

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