Stundenlang Jelinek: „Urlesung“ von „Ring“-Bühnenessay

München (dpa) - Der Gott Wotan aus Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ und Ex-Bundespräsident Christian Wulff haben nach Ansicht von Elfriede Jelinek einiges gemeinsam: Beide wollten ein neues Haus und holten sich dafür zweifelhafte Hilfe.

Das ist ein Gedanke, den die Literaturnobelpreisträgerin zu Wagners „Ring“ aufgeschrieben hat. Am Sonntagabend wurde ihr Bühnenessay „Rein Gold“ bei den Münchner Opernfestspielen uraufgeführt - oder besser „urgelesen“. Für die 129 Textseiten waren vier bis sechs Stunden angesetzt - ohne Pause. „Damit das nicht noch länger dauert.“ Um zwei Uhr nachts war Schluss.

Dass das für Publikum und die Leute auf der Bühne alles andere als ein Spaziergang werden sollte, daraus machte Regisseur Nicolas Stemann keinen Hehl. In die Bühnenecke stellte er eine Art Abrisskalender. Mit jeder geschafften Essay-Seite wurde auch dort weiter geblättert. Nach mehr als einer Stunde waren erst 15 Seiten geschafft - inklusive Deckblatt.

Jelinek hat sich ausgehend von dem großen Dialog zwischen Walküre Brünnhilde und Göttervater Wotan im dritten Akt der „Walküre“ Wagners Mammutwerk genähert. Der Essay beginnt mit folgenden Worten: „Brünnhilde: "Ich versuche also zu präzisieren, das ist ein etwas delikates Gebiet, es fällt mir schwer. Also. Papa hat sich diese Burg bauen lassen, und jetzt kann er den Kredit nicht zurückzahlen. Eine Situation wie in jeder zweiten Familie."“

Mit Bezug auf Wulff und sein Haus in Großburgwedel ist die Rede von der „Burg Wedel“. „Du hast immer geglaubt, Du kannst Dir alles erlauben“, sagt Brünnhilde. Neben der Wulff-Affäre gibt es immer wieder klassische Kapitalismuskritik. Marx' „Kapital“ lässt grüßen. Jelineks Essay soll, so sagt die Staatsoper, eine Verbindung schaffen „zwischen Mythos, Wagner und Gegenwart“.

Regisseur Stemann gestaltet die Lesung mit einer insgesamt eher kargen Performance aus Lesung, Gesang und mit Orchester. Zum Walkürenritt hüpfen Frauen auf Holzpferden über die Bühne. Als Lesende hat Stemann eine Schauspielgruppe - unter anderem mit Birgit Minichmayr und Sebastian Rudolph - auf die Bühne geholt.

Sie lesen den Mammut-Dialog - Brünnhilde und Wotan sprechen jeweils bis zu 30 Seiten lang - abwechselnd, manchmal auch gemeinsam, manchmal schreit jemand dazwischen.

Hinten links in der Bühnenecke sitzen diejenigen, die gerade nicht an der Reihe sind, auf einem Sofa und schauen Fußball. Schließlich verliert zeitgleich Italien das EM-Finale gegen Spanien. Folgerichtig war das Prinzregententheater den ganzen Abend über höchstens zur Hälfte gefüllt. Die Oper hat die Veranstaltung bewusst offen gehalten. Zuschauer konnten kommen und gehen, wann sie wollten und Pausen einlegen. Viele gingen, wenige kamen zurück.

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