Rock: Die Wunderkinder TATE

Das Quintett The Airborne Toxic Event hat sein Entstehen einer Bündelung von Schicksalsschlägen zu verdanken. Düster ist ihr verspielter Rock deswegen nicht.

Es war keine Entscheidung von jetzt auf gleich. Mehrere Monate haderte Mikel Jollet mit sich, sah in seiner Arbeit keinen Sinn mehr, beendete den Roman, den er mit dem Ehrgeiz begonnen hatte, endlich etwas Bleibenderes zu verfassen als Plattenkritiken, und dachte sogar über Selbstmord nach, so übel hatte ihm das Schicksal mitgespielt.

Innerhalb einer einzigen Woche im Jahr 2006 wurde bei seiner Mutter Krebs diagnostiziert, machte die Freundin nach langjähriger Beziehung Schluss und wurde ihm eröffnet, dass er an einer aggressiven Autoimmunerkrankung leide. Symptome: Lungenentzündung, ausschlagartige Hautaufhellungen und Ganzkörperhaarausfall. Die Krankheit an sich, so der Arzt, sei kein Problem.

Jollet müsse nur fortan Ernährung und Lebenswandel strikt umstellen, auf Alkohol und Nikotin verzichten, fettfrei essen, in stressfreier Umgebung leben. Für einen jungen Menschen wie Jollet ein Todesurteil, gehörten besonders Zigaretten zu seiner romantisierten Vorstellung vom Schriftstellerdasein.

Sieht man Jollet heute, wie er auf der Bühne steht, schweißverschmiert in die Gitarrensaiten drischt und mit überschnappender Stimme in den Zuschauerraum bellt, ist von dem Häuflein Elend, das er vor drei Jahren war, nichts mehr übrig.

Den medizinischen Rat zur Askese hat er in den Wind geschrieben, sich irgendwann vor Augen geführt, dass die Manuskript-Fragmente vielleicht nicht unbedingt für ein ganzes Buch, aber für jede Menge guter Songs reichen und sich daran gemacht, die tiefgründigen, von Selbstzweifel und ungebrochenem Lebenswillen getragenen Zeilen angemessen zu vertonen.

Dazu brauchte er eine Band. Für ein Soloprojekt wüteten seine klangreichen Kompositionen zu orchestral in seinem Hinterkopf. Deswegen war es ihm auch schnell zu wenig, mit Drummer Daren Taylor als Duo aufzutreten. Eine zweite Gitarre musste her, ein Bass, ein Keyboard, vielleicht noch ein klassisches Kammermusikinstrument. Heute füllen Steven Chen (Lead-Gitarre), Noah Harmon (Bass) und Anna Bulbrook (Violine, Keyboard) diese einst klaffenden Lücken.

Selbst der Name der Band durfte kein platter Wortwitz sein oder aus einer skurrilen Zufälligkeit herrühren. Jollet suchte nach einem Begriff, der das Projekt Neuanfang mit Sinnhaftigkeit unterfüttern sollte, und fand ein Kapitel aus Don DeLillos "Weißes Rauschen", einem Roman, in dem die Hauptfiguren die eigene Sterblichkeit verdrängen, allerdings eines Tages wegen einer Umweltkatastrophe, die zur Evakuierung ihrer Gemeinde führt, in aller Härte damit konfrontiert werden.

Dieser Ausstoß giftiger Gase ist mit "The Airborne Toxic Event" überschrieben, ein Ereignis, das unterschiedlichste Schicksale auf engstem Raum miteinander verknüpft. Kurz: Der bewegende, niederschmetternde, manchmal auch rührselige Stoff, aus dem Katastrophenfilme gemacht sind.

2007 traten TATE, wie sie mittlerweile griffig abgekürzt werden, noch in kleinen Bars ihrer Heimat Kalifornien auf, und die Selbstverständlichkeit, einfach nur Musik machen zu wollen, ohne dem Druck anheim zu fallen, Erfolg haben zu müssen, machte sie schnell zu einem Geheimtipp.

Bereits 2008 gingen sie mit Franz Ferdinand, den Kaiser Chiefs oder den Fratellis auf Tour durch Großbritannien und bündelten ihre kraftvollen Rocksymphonien zu einem Album, das nun auch in Deutschland erscheint.

Darauf sind Songs, die in jedem Moment fesseln, die es mit der instrumentalen Wucht bisweilen ein bisschen übertreiben, allerdings nur solange, bis man merkt, dass es genau dieser Drang zum bedingungslosen Mehr ist, der ihren Reiz ausmacht. Selbstmitleid führt hier zur soundsatten Katharsis, bestürzende Themen und ein unheilschwangerer Grundton gehen in lichter Lebensfreude auf.

Für Jollet hat sich die Abkehr von allem, was ihm wichtig schien, gelohnt. Sein Airborne Toxic Event ist die gelungene Therapie von der Endzeitstimmung, die ihn innerlich aufzulösen drohte. In der Phase, in der er seine Romanschnipsel zu Poptexten umdeutete, sollen bis zu 50 Songs entstanden sein. Die nächsten drei Alben sind also sicher.

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