Neil Youngs Feuer lodert weiter

Berlin (dpa) - In mehr als vier Jahrzehnten hat Neil Young so manchen Klassiker der Rockmusik veröffentlicht. Nach einigen lediglich soliden Werken lässt er die Finger von den Drogen - und liefert zusammen mit seiner treuen Band Crazy Horse noch einmal ein üppiges Meisterwerk ab.

Als Neil Young vor einigen Monaten mit seinem legendären Trio Crazy Horse das Coverversionen-Album „Americana“ herausbrachte, freuten sich Fans und Kritiker, dass die alten Kämpen des Gitarrenrock noch so gut beieinander sind. Sogleich kursierte das hoffnungsvolle Gerücht, es könne einen Nachschlag geben - endlich wieder mit eigenen Songs.

Dieser Sattmacher fällt nun üppig aus: Auf einer Doppel-CD (Dreifach-Vinyl) von 88 Minuten Laufzeit, in gerade mal neun brachialen Liedern, stellt Young klar, dass das solide Tribute-Werk „Americana“ nur der sommerliche Aufgalopp eines langen Ausritts mit den verrückten Pferden war.

„Psychedelic Pill“ (Reprise/Warner) fällt zusammen mit der ersten Autobiografie von Neil Young, die Ende September auf Deutsch unter dem Titel „Ein Hippie-Traum“ (Kiepenheuer & Witsch) erschien. Darin schildert der knapp 67-jährige Kanadier seine Karriere und seine oft kauzigen Standpunkte ähnlich ausfransend, wie man es von den Platten mit Crazy Horse seit vier Jahrzehnten kennt. Das einen Monat später veröffentlichte Album rechtfertigt nun alle Hoffnungen, Young und seine Mitstreiter Frank „Poncho“ Sampedro (Gitarre), Billy Talbot (Bass) und Ralph Molina (Schlagzeug) könnten im gehobenen Rocker-Alter von 63 aufwärts nochmal zur Höchstform auflaufen.

Neil Young & Crazy Horse gelingt es anno 2012 sogar, einen Rekord zu brechen: Mit dem gut 27-minütigen Album-Opener „Driftin' Back“ liefern sie den längsten Song ihrer Karriere ab. Auch die fast 17-minütigen Stücke „Ramada Inn“ und „Walk Like A Giant“ schaffen es - was das Ausmaß betrifft - in die Top Five dieser an gewaltigen Liedern gewiss nicht armen Diskografie. Young-Klassiker der 70er Jahre wie „Cowgirl In The Sand“, „Cortez The Killer“ oder „Like A Hurricane“ kommen da nicht mit. Und das Schöne ist: Die neuen Songs rechtfertigen ihre Riesenlänge. Mehr noch: Sie gehören zu den Glanzpunkten eines Spätwerks, das in den 90er Jahren begann, als der ewige Hippie und Folkrocker Young zum Paten des Grunge wurde.

Insbesondere „Driftin' Back“ ist ein Wunderwerk des melodischen Krachs: Nach einem Intro, in dem Neil Young kurz seine sanften Akustik-Phasen zitiert, begibt sich das Quartett auf einen kraftstrotzenden, nostalgischen Westcoast-Trip. Schier endlose, so kunstvolle wie effektive Gitarrensoli, ein dröhnender Bass und polternde Drums erfüllen den Anspruch des Songtitels - man driftet für eine halbe Stunde weg, zurück in eine Zeit, als Rockmusik noch unangepasst war und sich nicht zu MP3-Häppchen komprimieren ließ. Wie die besten Lieder jener Ära wird auch „Driftin' Back“ trotz seiner Maßlosigkeit nie langweilig. Und Neil Young singt mit seiner typischen Fistelstimme so gut wie schon lange nicht mehr.

Kein Grund zur Sorge also, dass der Meister seine Inspiration verloren haben könnte, als er - wie in der Autobiografie offenbart - erst kürzlich seinen Haschisch-Konsum aufgab. „High sein hieß für mich immer, die Realitäten der einen Welt zu vergessen und in eine andere Welt abzudriften: die Musikwelt, wo alle Melodien und Texte in einer unberechenbaren und zufälligen Art zusammenkommen, wie ein Geschenk“, so hat der auf einer Ranch in Kalifornien lebende Musiker seine drogenbeeinflusste Methode des Songschreibens gekennzeichnet.

Auch in einem „Zeit“-Interview umschrieb Neil Young im Juni seine Ansprüche an sich selbst - und seine Ängste: „Es stimmt, dass Rock 'n' Roll etwas Existenzielles hat. Das ist ja das Tolle daran: Die Leute wollen einem Feuer beim Lodern zusehen. Wenn es nur so ein bisschen vor sich hinknistert, sind sie gelangweilt. Sie erwarten, dass gleich etwas explodiert. Trotzdem ist das Brennen nicht alles, denn wenn du erst einmal ausgebrannt bist, ist es vorbei mit dir...“ Abgesehen von zwei kurzen, weniger bemerkenswerten Liedern auf „Psychedelic Pill“, hat Young offenkundig einen neuen Weg zu höchster Kreativität gefunden - und geht ihn nun zum Glück wieder mit Crazy Horse, der besten seiner Bands. Das Feuer lodert weiter.

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