Mit Worten könnte man die Welt erlösen

Ein Nachruf zum Tode der vielgerühmten dänischen Dichterin Inger Christensen.

Düsseldorf. Man ist verblüfft, wie taktlos die große, immer wieder für den Literaturnobelpreis in enger Auswahl gewesene Dichterin Inger Christensen sich selber gegenüber sein konnte: "Als Gymnasiastin habe ich einen unglaublichen Mist geschrieben", bekannte sie einmal. Doch dahinter verbarg sich der Wunsch - auch an andere gerichtet -, doch bitte sehr ihren Rang zu minimieren. Wie man erst gestern erfuhr, ist Inger Christensen bereits am Freitag im Alter von 73 Jahren gestorben.

In Verbindung mit dieser Dichterin kann man nur von allerhöchstem Rang sprechen. Die 1935 im jütländischen Veijle geborene Dichterin, die zunächst Medizin, Chemie und mathematik studierte und Kunstlehrerin war, hat die europäische Dichtkunst seit den sechziger Jahren um Lyrik und Prosa bereichert, die ihresgleichen suchen. Schon ihr Debüt mit den Zyklen "Licht" und "Gras" ließen aufhorchen., aber auch "Det" (deutsch: Es), das grammatische Termini memoriert.

Und zu einer Zeit, da die Menschen sich im Namen eines dubiosen Aufschwungs dem Materialismus zuwandten, befragte Christensen - und das in sprach-experimenteller Weise - die Natur, die Wiesen und Pflanzen, die Sprache und die Herkunft der Wörter, sprich: die Erinnerung. Im Band "Alphabet" (1981) dichtet sie die Verse nach der Zahlenreihe des italienischen Mathematikers Fibonacci. Unversehens verwandelt sie Mathematik in eine musikalische Komposition.

Erinnerung aber führt direkt in unser existenzielles Zentrum, zum Tod. Dies wird am innigsten deutlich in "Schmetterlingstal. Ein Requiem" (1995, Kleinheinrich, Münster). Hierin greift Christensen die Form des Sonetts auf und windet aus vierzehn Sonetten und dem Schluss-Meistersonett den Sonettenkranz.

Dort heißt es dann: "Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen vom Schmetterlingsflügel aus anblickt." Die Verwandlungen jedes Sonetts durch die Übernahme der letzten Zeile des vorangegangenen spiegeln ein System zahlloser, gänzlich spielerischer Metamorphosen meisterlich wider. Um den Tod kreist schließlich auch "Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod" (2000).

Hiervon sprach auch der Dichter Durs Grünbein als Laudator bei der Verleihung mit 50 000 Euro dotierten Siegfried-Unseld-Preises des Suhrkamp Verlags im Jahr 2006: Schmetterlingstal sei "ein Kunstwerk an der Grenze zur Vollkommenheit". Kein anderes Werk der Gegenwart komme "einer Unabschließbarkeit im Innern bei äußerlich abgeschlossener Form" so nahe.

Und Christensen verstand sich als Erbin Kierkegaards, sah sich an der Seite altgriechischer Lyrik und Metaphern, betrachtete Sprache und gesprochene Lyrik als Psyche im Sinne von Atem und Seele, der auch ihrer Stimme innewohnte, eine tiefe und unerschütterliche Sanftmut: "Worte könnten es sein / die der Welt Gnade brächten", lautet eine Zeile eines ihrer Großgedichte.

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