Zeche Zollverein Essen : Porträts von Holocaust-Überlebenden - Die Rückeroberung der Würde
Essen Man wollte ihnen alles nehmen, was Menschsein ausmacht. Sie sind die Zeugen des Grauens. Der Fotograf Martin Schoeller hat 75 Holocaust-Überlebende porträtiert.
Man sagt das so leicht: „Das steht ihm ins Gesicht geschrieben.“ Würde man es auch wagen, diesen Satz den 75 Porträtierten zu sagen, wenn man ihnen gegenüber stünde: dass sich an ihren Gesichtszügen die Abgründe der Geschichte ablesen lassen, das Grauen des Holocaust? Oder stehen die brillanten Aufnahmen des in New York lebenden deutschen Fotografen Martin Schoeller nicht vielmehr für einen zähen Triumph? Die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten hat diesen Menschen alles nehmen wollen, was sie ausmacht. Und nun blicken sie mit der ganzen Autorität ihres hohen Alters in die Kamera – und erzählen damit auch von der Rückeroberung ihrer Würde.
Schoeller macht das seit Jahren so: immer dasselbe Licht, immer dieselbe Kamera, immer dieselbe Augenhöhe. „Close Ups“ nennt er seine Nahaufnahmen der Berühmten und der Namenlosen dieser Welt. Gleiche Bedingungen für alle, wenn man so will – keine Umgebung und keine Inszenierung soll sie voneinander unterscheiden, sondern nur ihr Gesicht. Für Schoeller ist das ein humanitärer, demokratischer Anspruch an seine Fotografie. Diese Haltung verschafft ihm Aufträge führender internationaler Magazine.
Die Idee für das Projekt stammt von Kai Diekmann
Aber den Auftrag, den er auf Vermittlung von Kai Diekmann annahm, dem ehemaligen „Bild“-Chefredakteur und Vorsitzenden des Freundeskreises von Yad Vashem in Deutschland, bezeichnet er im Rückblick als „das emotionalste Projekt meines bisherigen Lebens. Es hat mich für immer verändert.“ Im vergangenen Mai reiste der 51-Jährige für zehn Tage nach Israel, um 75 Überlebende des Holocaust zu fotografieren. Die Auswahl hatte die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übernommen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie heute in Israel leben und eine enge Beziehung zu der Gedenkstätte pflegen.
Die Wirkung der überlebensgroßen Porträts an den Wänden der ehemaligen Kokerei-Mischanlage auf dem Gelände des Essener UN-Welterbes Zollverein lässt sich mit Worten nur ungenügend beschreiben. Das Ruhrgebiet war einst eine der Waffenschmieden der NS-Diktatur. Auch Spuren der Massenermordung in den Gaskammern führen bis in die chemische Industrie des Reviers. Und nun wird im Herzstück der einstigen Ruhrgebietsidentität dieser künstlerische Kommentar zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gezeigt. Wärmelampen nehmen der schroffen und meterhohen Industrie-Ästhetik das Fröstelnde, eine geniale warme Ausleuchtung befreit die Bilder vor dem Hintergrund der dunklen, rauen, unverputzten Hallenwände von jeder Opferanmutung. Es sind ungeachtet der einzelnen Schicksale Fotografien menschlicher Stärke.
Knappe biografische Angaben und ein Zitat
Die biografischen Angaben zu den einzelnen Personen sind denkbar knapp gehalten. „Während des Holocaust: Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau“; „Während des Holocaust: Durchgangslager Weterbork, jüdisches Waisenhaus“; „Während des Holocaust: Ghetto Kamien Koszyrski, durch Christen im Wald versteckt“. Dazu ein Zitat des jeweiligen Porträtierten: „Ich wünsche den kommenden Generationen Seelenstärke. ich hoffe, dass so niederschmetternde Ereignisse, wie ich sie während des Holocaust erlebt habe, nie wieder geschehen“, steht unter dem Foto von Shela Altaraz, die 1934 im heutigen Nordmazedonien geboren wurde.