Wohnen im Baudenkmal

Architektur: Im Berliner Gropius-Bau wird die erste deutsche Schau zum Werk von Le Corbusier gezeigt.

Berlin. Am Ende ging es um 24 Zentimeter. Le Corbusier verlangte 2,26 Meter Deckenhöhe für seine "Wohnmaschine" mit 530 Wohneinheiten, die Richtlinie für Sozialen Wohnungsbau in Berlin lag 1957 aber bei 2,50 Meter. Die sind es zum Glück auch geworden - mit der Folge, dass der viel gescholtene XXL-Wohnblock am Berliner Olympiastadion immer noch seine Fans hat.

Hans Roth zum Beispiel. Der Mikrobiologe hat 1994 für sich und seine Frau eine Drei-Zimmer-Wohnung im 13. Stock gekauft. Im Westen schauen die Roths bis ins Brandenburgische, im Osten bis zum Fernsehturm. "Licht, Luft, Sonne", betet Roth das Mantra der Architekturreformer der 20er Jahre nach. "Wer heute hier einzieht, tut es wegen der Architektur."

Wohnen im Baudenkmal, Alltag in der klassischen Moderne: In Berlin zieht es seit einigen Jahren immer mehr Architekturfreunde in die Wohnblocks der 50er Jahre. Im Ostteil sind das vor allem die renovierten Arbeiterpaläste an der ehemaligem Stalinallee oder die Plattenbauten an der Leipziger Straße. Im Westen ist es das Hansaviertel - oder eben Le Corbusiers Wohnmaschine in Charlottenburg.

Auch deshalb passt es, dass jetzt in Berlin zum ersten Mal in Deutschland eine umfassende Werkschau über Le Corbusier zu sehen ist. Denn: Ohne den Superstar unter den modernen Architekten, ohne diesen glatzköpfigen Egomanen mit der schwarzen Hornbrille, wäre die funktionalistische Architektur des 20. Jahrhunderts um einen Fundamentalisten und etliche Debatten ärmer.

Anfang der 20er Jahre signiert der junge Schweizer Architekt Charles-Edouard Jeanneret zum ersten Mal Pläne mit "Le Corbusier". Seine Jünger sind bis heute unsicher, was dahinter steckt. "Lecorbésier" hießen Verwandte mütterlicherseits, mit dem Umzug nach Paris habe sich der Schweizer als Franzose neu erfinden wollen. Das ist die eine Theorie. Die andere sagt: Es habe mit dem Gesichtsausdruck des Architekten zu tun: "Le Corbeau" heißt auf Französisch "der Rabe".

Als Le Corbusier 1965 mit 78 Jahren stirbt, hinterlässt er der Welt nur rund 80 Bauten - dafür aber 32000 Skizzen und Pläne, einige Möbelklassiker, 40 Bücher und 200 Konzepte für noch nicht realisierte Projekte. Darunter auch eins für Berlin: Im Jahr 1958, der Krach um die Charlottenburger Wohnmaschine ist vergessen, entwirft Le Corbusier ein Innenstadtkonzept für Berlin.

Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister, wollte für den Fall einer Wiedervereinigung einen Plan in der Schublade haben. Doch Corbusiers funktionalistischer Entwurf wird abgelehnt - dabei hatte der Verfechter der Trabantenstadt durchaus praktikable Einfälle. Einer davon wird Jahrzehnte später unter dem Motto "Park & Ride" im dicht besiedelten Ruhrgebiet wieder aufgegriffen.

Ende Juni hat die Unesco einen internationalen Vorschlag zurückgewiesen, 22 Corbusier-Bauten aus verschiedenen Ländern zum Weltkulturerbe zu erklären - darunter die berühmte organisch geschwungene Kapelle in Ronchamps und die beiden neu-sachlichen Häuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Le Corbusiers Schweizer Geburtsort La Chaux-de-Fonds dagegen gehört ab sofort zum Weltkulturerbe - ein Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie.

Und ein Geheimtipp für Corbusier-Fans: Hier steht das Frühwerk des Autodidakten, zwei freundliche, absolut traditionell entworfene Stadtvillen, die noch nichts ahnen lassen von den gigantischen Wohnblocks und geradezu manisch funktionalistischen Stadtplanungen des späteren Architekturmaschinisten. Le Corbusier: Kunst und Architektur. Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 5. Oktober.

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