Grachten-Ausstellung in Amsterdam: Kunstgenuss an ungewöhnlichen Orten

Am Freitag fiel der Startschuss für ein Projekt, das an 20 Punkten Arbeiten von 35 Künstlern präsentiert.

Amsterdam. Wieso, weshalb, warum: Wer bis zum 17. November die richtigen Fragen stellt, erhält in Amsterdam die passenden - künstlerisch wertvollen - Antworten. Der Grund basiert programmgemäß auf einem Sprachenmix. "Chambres des Canaux: The Tolerant Home" heißt die ungewöhnliche Ausstellung, die gestern im "Venedig des Nordens" eröffnet wurde. Auf gut Deutsch gesagt: Das Projekt "Grachtenzimmer" trägt zu Recht den Untertitel "Das tolerante Zuhause". Die ungewöhnliche Schau, die bis zum 17. November an 20 verschiedenen Orten rund um den Grachtengrütel seltene Einblicke verspricht, soll die tolerante Haltung der Amsterdamer unterstreichen und gleich zwei Aspekte auf einmal vor Augen führen: Sie lenkt den Blick auf die Entwicklung des Grachtenbaus im 17. Jahrhundert und die aktuellen Positionen von insgesamt 35 Künstlern.

In Amsterdam, einem Schmelztiegel der Kulturen, können Kunstfreunde sprichwörtlich um und durch die (Grachten-)Häuser ziehen. Dabei führt der Blick durchs Schlüsselloch nicht nur in Gebäude, sondern - wie könnte es in Amsterdam auch anders sein? - genauso auf Hausboote. Knapp zweieinhalb Wochen lang dürfen Neugierige staunend ihre Sinne schärfen, je nachdem, ob sich ihnen die Botschaft der zeitgenössischen Werke direkt oder gar nicht erschließt, vielleicht auch leicht den Kopf schütteln, in jedem Fall aber Orte betreten, die durch den modernen Kontext in neuem Licht erscheinen.

Weshalb dem geneigten Beobachter dafür nicht einmal drei Wochen Zeit bleiben? Frans van der Avert (Amsterdam Marketing) hat eine logische Erklärung: "Es wäre schwierig, den Beteiligten zu sagen, dass sie drei Monate lang nicht in ihre Schlafzimmer dürfen." Der Marketing-Chef sagt's - und schmunzelt. Denn genau das macht die Grachten-Ausstellung so einzigartig: Der Reiz des Ganzen liegt nicht immer (nur) in den einzelnen Kunstobjekten, sondern vor allem darin, dass die Ausstellung auch Türen von Privathäusern öffnet, die für die breite Öffentlichkeit normalerweise verschlossen sind. "Viele dieser Häuser kennen selbst Amsterdamer nicht", betont Frans van der Avert.

Doch warum wurde für das Projekt, das die niederländische Toleranz feiert, ausgerechnet ein französischer Titel gewählt? Es sei eine Anspielung auf eine Aktion, die fast 40 Jahre zurückliegt, wie der Marketing-Direktor erklärt: Mit "Chambres d'amis" - also Zimmern von "Freunden" - hatte Jan Hoet 1984 in Gent zeitgenössische Kunst in Privatwohnungen präsentiert. "Der Titel ist eine Reminiszenz."

Apropos Freunde: Frans Huppert steht an der Prinsengracht und beobachtet, wie ein Kran eine große Skulptur auf sein Hausboot hievt. Wieso er seine wasserfeste Immobilie zur Verfügung stellt? "Er hatte keine Wahl", sagt Siebe Tettero und lacht. Im Ernst: Tettero, der mit Huppert befreundet ist, hat die Ausstellung kuratiert und dabei großen Wert darauf gelegt, "dass sie nicht nur zu öffentlich zugänglichen Plätzen führt". So halten schon beim Aufbau, zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung, zahlreiche Passanten und Radfahrer an, um das Spektakel zu beobachten. Die Skulptur, ein Reiter mit Pferd, "schwebt", am Kran hängend, durch die Luft, wird mit der gebotenen Langsamkeit bewegt und am Ende vorsichtig auf dem Boot abgesetzt. Es ist eine Skulptur von Joep van Lieshout, der zu den bekanntesten Ausstellern der durchaus internationalen Riege gehört. Doch bei allem Respekt vor künstlerischer Freiheit und bildhauerischer Kompetenz: Hat Huppert keine Angst, dass das Kunstwerk seinem Boot schaden könnte? Der Niederländer schüttelt den Kopf. "Pro 1000 Kilogramm sinkt das Boot nur um einen Zentimeter."

Im Gegenzug soll mit der einzigartigen Aktion das Interesse für moderne Kunst steigen. Dabei locken architektonische Kleinode genauso wie malerische Erkenntnisse. Im Bibelmuseum (Herengracht 366-368) beispielweise treffen Grüße aus der Vergangenheit besonders eindrucksvoll auf Fotografien aus der Neuzeit: Die Arbeiten von Viviane Sassan hängen zwischen altehrwürdigen Meistergemälden. Sassen spielt mit Licht und Schatten - die 41-Jährige Amsterdamerin stellt Impressionen aus Afrika vor. Während die 35-jährige Rotterdamerin Amie Dicke in einem Privatgebäude (Keizersgracht 387) Porträts mit verfremdeten Gesichtern vorstellt, nutzt Alicia Framis, 1967 in Barcelona geboren, eine Kirche, die Westerkerk (Prinsengracht 281), als Ausstellungsraum.

International besetzt ist die Liste der Akteure übrigens nicht zuletzt deshalb, weil 20 von ihnen Absolventen der Amsterdamer Rijksakademie sind. Die 1870 gegründete Kunstschule fördert bildende Künstler durch einen zweijährigen Akademieaufenthalt in der niederländischen Hauptstadt. Pro Jahrgang bewerben sich 1500 Kreative aus aller Welt - 25 werden jeweils ausgewählt. Die insgesamt 50 Künstler versprechen einen "Nachschlag" nach der aktuellen Kunst-Offensive an den Kanälen. Wer bei der Grachten-Ausstellung auf den Geschmack gekommen ist, darf sich auf einen weiteren Rundgang freuen: Vom 29. November bis zum 1. Dezember öffnet die Akademie ihre Pforten. Weshalb auch das eine Entdeckung wert ist? Weil türkische, italienische oder russische Künstler nicht nur ihre Werke präsentieren, sondern auch Rede und Antwort stehen - und auf jede "richtige" Frage eine individuelle Rückmeldung geben.

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