Ein Porträt von jedem New Yorker

New York (dpa) - Wer sich mit Jason Polan treffen will, der vereinbart per Mail Ort und Zeit sowie ein Erkennungszeichen. Nicht mehr und nicht weniger. Keine Telefonnummer, nicht einmal nach dem Namen fragt der 29-Jährige.

Das Treffen selber dauert dann höchstens zwei Minuten: Polan vermeidet Blickkontakt, beobachtet aus der Ferne - und zeichnet. Auf seiner Homepage veröffentlicht der Künstler all die Porträts, die er auf New Yorks Straßen anfertigt.

„Every Person in New York“ nennt sich das Projekt. Polan hat sich zum Ziel gesetzt, jeden der rund 8,2 Millionen New Yorker zu zeichnen - ob sie wollen oder nicht. Denn wenn Polan gerade mal keine Verabredung hat, dann porträtiert er all die anderen Menschen, die durch die Stadt laufen. An manchen Tagen sind es nur ein oder zwei Bilder, die er anfertigt. An anderen kommt er mit Hunderten von neuen Zeichnungen nach Hause.

Seine Werke tragen Titel wie „Man at Taco Bell on 14th Street“, „Woman ice-skating at Rockefeller Center“ oder „Tilda Swinton at the Guggenheim Museum“. Polan wartet nicht auf Promis, sie stehen plötzlich an der Ampel neben ihm. Er sucht nicht nach besonderen Leuten, er sieht sie in der U-Bahn. Und immer dann, wenn ihm irgendetwas an irgendjemandem auffällt, muss er sie oder ihn unwillkürlich zeichnen. Polan bemerkt ein ungewöhnliches Paar Schuhe, mag die Jacke eines kleinen Jungen oder hat Sympathien mit einem schlafendem Mann. All das hält er in seinem Zeichenblock fest. „Ich suche nicht, ich finde“, sagt er.

Oft bleiben ihm für ein Porträt nur ein paar Sekunden. Wenn es die Situation zulässt, dann nimmt Polan sich aber auch gern mal mehrere Minuten Zeit. An dem Porträt der Frau, die in einem Café Postkarten schreibt, saß Polan knapp acht Minuten. Die beiden Männer dagegen, die einen großen Stapel Holzplatten über den Broadway schleppen, waren innerhalb von nicht einmal 60 Sekunden skizziert. „Sobald die Person verschwunden ist, höre ich auf zu zeichnen. Geändert wird dann nichts mehr an dem Bild“, erklärt der Künstler. Denn: Polan kann nur das zeichnen, was er sieht. Die Fähigkeit, aus dem Gedächtnis heraus etwas zu Papier zu bringen, fehlt ihm: „Daher wünschte ich mir manchmal, noch schneller zeichnen zu könnten.“

Polan hat bisher 17 000 Zeichnungen angefertigt. Die „New York Times“ rechnete aus, dass er 79 Jahre lang alle fünf Minuten eine Person zeichnen müsste, um wirklich von jedem New Yorker ein Porträt anfertigen zu können - all die New York-Besucher nicht eingerechnet sowie die Wahrscheinlichkeit, eine Person doppelt zu malen. Polan hingegen nimmt es locker: „Ich werde es vielleicht nicht schaffen. Aber wenn, dann treffen wir uns alle und feiern meinen Erfolg.“

Geboren 1982 in der Nähe von Detroit (Michigan), zog es Polan nach dem Studium der Malerei und Anthropologie vor sieben Jahren nach New York City. Im März 2008 startete er das Projekt „Every Person in New York“. Vorgänger ist ein Telefonbuch der Kleinstadt Skykomish im US-Bundesstaat Washington - zu jeder der 117 Telefonnummern zeichnete Polan das dazugehörige Gesicht. „Ich mag diese Art der interaktiven Kunst. Zum einen bin ich den Menschen ganz nah, zum anderen ganz weit weg“, sagt Polan. Denn ansprechen wird er niemanden auf der Straße. Weil er dafür zu schüchtern sei, so behauptet er zumindest.

Geld verdienen lässt sich mit „Every Person in New York“ zwar nicht, Polan hat allerdings durch dieses Projekt die Aufmerksamkeit großer Firmen auf sich gezogen. Die Jeansmarke Levis, das Modelabel „Jack Spade“ und gar das weltbekannte Museum of Modern Art (MoMa) zählen mittlerweile zu seinen Auftraggebern. Für Polan wird es so immer schwieriger, unerkannt zu bleiben. Denn auch er hat neben Stift und Zettel ein Erkennungsmerkmal: Eine rote Mütze mit blauen Streifen. Und genau solch ein kleines Detail ist es, was seine Aufmerksamkeit wecken würde. Und mittlerweile auch die der New Yorker.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Liebe und Hass in der Vorstadt
Peter Kurth und Peter Schneider ermitteln im „Polizeiruf“ nach einem Kindsmord in Halle/Saale Liebe und Hass in der Vorstadt
Aus dem Ressort