Ausnahme-Künstler Im Skulpturenpark wird das Werk von Martin Disler wiederentdeckt

Wuppertal · Tony Cragg lernte den Schweizer Künstler Martin Disler 1980 kennen. Jetzt stellt er sein Hauptwerk „Häutung und Tanz“ aus.

 Irene Grundel, Witwe von Martin Disler, vor einem Werk ihres Mannes im Skulpturenpark.

Irene Grundel, Witwe von Martin Disler, vor einem Werk ihres Mannes im Skulpturenpark.

Foto: Schwartz, Anna (as)

Martin Disler (1949 – 1996) war ein Ausnahme-Künstler. Ein Besessener, der ständig die Grenzen überschritt. Ein früh Vollendeter, der nur 47 Jahre alt wurde. Ohne Schulabschluss und akademische Ausbildung beschloss er eines Nachts als Pfleger in einer Psychiatrischen Klinik im Kanton Solothurn, Künstler zu werden. In seiner Biographie hielt er fest: „Ich male, um zu werden, der ich bin.“ Atemlos schuf er sein Werk als  Ausbruch aus einer Tiefe, die dem Normalmenschen verborgen bleibt.  Jetzt gelang es Tony Cragg, mit „Häutung und Tanz“ (1990) ein Hauptwerk der Bildhauerei  in den Skulpturenpark Waldfrieden zu holen.

Keine Abbilder, aber Sinnbilder der menschlichen Figur

Die körperliche Energie darzustellen, war sein Markenzeichen. Seine Witwe Irene Gundel erzählt, wie sie als frisch Verliebte mit ihm 1981 vier Nächte im Kunstverein Stuttgart verbrachte, wo das 140 Meter lange Panorama „Die Umgebung der Liebe“ entstand. In seiner expressiven Kraft gilt es heute als Schweizer Kulturgut. Aber Disler war kein neuer Wilder. Er orientierte sich stets am Menschen, ob im Bild oder in der Skulptur.

21 Bronzen bevölkern die obere, lichte Halle im Skulpturenpark. Disler baute, so erklärt seine Witwe, jeweils ein Skelett aus Holz, umgab es mit Gipstüchern, beschichtete es mit feuchtem Gips und ging dann mit den Fingern in die weiche Masse, um die Oberfläche zu vitalisieren. Nun stehen, liegen und kriechen die Figuren im Raum. Sie wirken gesichtslos, und haben doch sprechende, feine Gesichter. Zugleich sind die Körperteile verwachsen, ineinander verschachtelt, aufeinander getürmt. Metamorphosen des Menschlichen.

„Viele Figuren gehen auf Begegnungen zurück. Da saß ein Krüppel auf dem Boden und fragte nach Geld“, erzählt seine Witwe. Aber daraus sei stets eine Reise in die Tiefe geworden. Zugleich liebte er den Tanz. Irene Grundel: „Er war immer in Bewegung, wir hatten Ateliers in Paris, New York und in der Schweiz. Nur nicht stille stehen“.

Er hielt Gesten und Ausdruck in klaren Körperformen fest, oft als Symbiose zweier Körper. Wie Zwei in einem“, so Irene Grundel. Kniend, die handlosen Arme weit vorgestützt, so scheinen die Skulpturen den Schmerz darzustellen. Aber gleichzeitig sitzt der Kopf auf einem kräftigen Nacken, wirkt der Rücken durchtrainiert wie beim Tänzer.

Der Mensch als liegende, hockende, kriechende, stehende und gehende Kreatur. Ein Maskenwesen, blind und sehend zugleich. Verwachsen, aber nie verunstaltet. Es sind keine Abbilder der Kreatur, sondern Sinnbilder. Irene Gundels Lieblingsfigur ist eine Art Daphe, die aus einem Baumstamm wächst. Aber während die Figur der griechischen Sage zum Baum erstarrt, verhilft hier der Stamm zum Geburtsvorgang, auf dass gleich zwei Figuren aus dem Baum entschweben und um ihn herum zu gleiten scheinen.

Diese Skulpturen sind nicht tot, sie schlafen auch nicht

„Ich wollte den Menschen herbei beten, ihn herbei träumen, herbeisehnen, herbei tanzen, herbei singen“, erklärte der dichtende Künstler. Aus all seinen Gestalten brach eine Kraft heraus, die sich kaum bändigen, aber auch kaum erklären lässt. Eine Qual, aber auch Zärtlichkeit steckt in ihnen. Immer rang er um ihre Gebärden, klärte sie in Zeichnungen und Skizzen, damit aus dem Gips auch eine Form wurde. Ein gespreiztes Beinpaar, ohne Rumpf, aber mit beulenartigen Köpfen. Ein Kriechender mit einer langen Nase wie Pinocchio, wobei unter dem Riechorgan ein Doppelgesicht steckt.

Tony Cragg, der den Künstler 1980 in Paris kennenlernte, fasst zusammen: „Diese Skulpturen sind nicht tot, sie schlafen auch nicht. Jede hat eine eigene Vitalität, ist ein Bild des Menschen.“

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