Weingartners Flucht vor der Leistungsgesellschaft

Berlin (dpa) - Martin lebt als Obdachloser in Berlin. Flaschensammler wie er recyclen die Dekadenz der Überflussgesellschaft. In der Nacht oder früh am Morgen, wenn die Stadt noch schläft, beugen sie sich mit Taschenlampen über öffentliche Abfalleimer, um den Müll nach Leergut zu durchsuchen.

Das Pfandgeld ist ihr Lohn, sie leben von der Verschwendung der Anderen.

Martin ist die Hauptfigur im neuen Werk des österreichischen Regisseurs Hans Weingartner („Das weiße Rauschen“, „Die fetten Jahre sind vorbei“, „Free Rainer“). Das Sozialdrama „Die Summe meiner einzelnen Teile“, das vor kurzem als Eröffnungsfilm auf dem Saarbrücker Max Ophüls-Festival Premiere feierte, ist weniger laut als seine Vorgängerfilme. Aber Weingartner weiß, wie man es leise krachen lässt. Die Geschichte folgt einem Mann, der in der Leistungsgesellschaft keinen Platz findet und sich deshalb einen neuen an ihrem Rand sucht. Die intelligente Parabel greift Themen auf, die in Weingartners Filmschaffen wiederkehren.

Der überarbeitete Mathematiker Martin Blunt (großartig: Peter Schneider) erleidet einen Zusammenbruch. Nach mehreren Monaten wird das Zahlengenie endlich aus der Psychiatrie entlassen. Doch seine Freude über die Rückkehr in den Alltag wird schnell gedämpft. Seine Ex-Freundin (Julia Jentsch in einer Nebenrolle) hat einen Anderen. Sein früherer Arbeitgeber will ihn nicht mehr einstellen. Schnell pfändet der Gerichtsvollzieher seine Sozialwohnung in Berlin-Marzahn. Martin wird obdachlos und beginnt vor Verzweiflung zu trinken.

Doch dann lernt Martin den Straßenjungen Viktor (Timur Massold) kennen, der nur Russisch spricht. Die beiden Außenseiter tun sich zusammen und bauen sich mit viel Abenteurerlust eine improvisierte Hütte in einem Waldstück nahe der Stadt. Selten hat sich Martin so unbeschwert gefühlt, wie mit seinem jungen Freund in der Natur. Er lernt ein Mädchen kennen, das - wie er es gerade tun musste - aus ihrem fest gefügten Arbeitsalltag fliehen will, um frei von Konventionen zu leben.

Aber dieses kleine neue Glück ist für Martin nur von kurzer Dauer. Waldarbeiter reißen die Hütte ab, und dann verschwindet plötzlich Viktor. Martins Psychologin zweifelt an seinem Verstand und bringt seine Welt wieder vollends ins Wanken.

Weingartner variiert in seinen Filmen das Thema der Revolte wider die Unmenschlichkeit der Gesellschaft. Auf dem Höhepunkt der Verzweiflung überfällt der Protagonist Martin einen wohlhabenden Geschäftsmann, der ihn kurz zuvor fast mit seinem dicken Auto überfahren hätte und ihn verletzt liegen lässt. Martin begibt sich auf die Flucht nach Süden, ähnlich wie die Filmhelden aus „Die fetten Jahre sind vorbei“.

Im Drama „Die Summe meiner einzelnen Teile“ rückt Weingartner, der vor seiner Filmkarriere Neurowissenschaften studiert hat, seiner Hauptfigur Martin ganz nah auf den Leib. Hier wird nicht viel erklärt, starke Szenen verdichten stattdessen die Dramaturgie, etwa wenn Martin Preise murmelnd durch die Kühlregalreihen im Supermarkt läuft und mit Hilfe seiner Berechnungen die Summe seiner einzelnen Teile wieder addieren und beherrschbar machen zu wollen scheint.

Dieser Mann, der sich an den Zahlen festklammert wie an einer Lebensphilosophie, versucht offenbar verzweifelt, das System zu entschlüsseln, das hinter dem harten rechnerischen Kalkül des Kapitalismus steht, an dem er zu scheitern droht. Er wird darüber nahezu verrückt - und eine Symbolfigur für den kranken Leistungsdruck der profitorientierten Arbeitswelt.

Konventionen und Normen halten die Menschen in Weingartners Filmen gefangen wie ein engmaschiges Netz. Die Charaktere lehnen sich dagegen auf und versuchen, daraus auszubrechen - doch der Freiraum für gesellschaftliche Gegenentwürfe ist knapp. „Die Summe meiner einzelnen Teile“ ist so ein aufrüttelndes Sozialmärchen.

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