Märchengroteske: Alice aus dem Baukasten

„Alice im Wunderland“ in 3D wirkt etwas zu routiniert – trotz der neu erzählten Story.

Eigentlich hat die kleine Alice aus den Geschichten von Lewis Carroll überhaupt keinen Grund zur Realitätsflucht. Zwar wird in den Büchern nicht viel über ihre Familie gesagt, aber die Gedanken, die sie sich macht, während sie durch zurechtfantasierte Kaninchenlöcher und Spiegelhallen stolpert, lassen auf eine unbeschwerte, behütete Jugend schließen.

Kein mürrischer Vater, keine herrische Mutter, keine neidischen Geschwister, noch nicht mal Geldprobleme. Was also lässt das verwöhnte Gör immer wieder in surreale Traumwelten abdriften, auf die jeder LSD-Konsument neidisch wäre?

Tim Burton, Hollywoods beständigster Kindskopf, hat sich diese Frage wohl auch gestellt - immer und immer wieder. Für seine nun erscheinende Filmversion von "Alice im Wunderland" verzichtet er auf naheliegende und dementsprechend abgenutzte Erklärungen wie soziale Tristesse oder innerfamiliäre Konflikte.

Stattdessen behilft er sich eines anderen Kunstgriffs und lässt die Titelheldin um rund zwölf Jahre altern. 19-Jährige haben schließlich immer einen Grund, vor irgendetwas wegzurennen.

So auch Alice (Mia Wasikowska). Ihr Vater ist gestorben, sein hinterlassenes Handelsunternehmen steht vor dem Bankrott. Nur die Ehe mit Hamish, einem gelangweilten Muttersöhnchen aus gutem Hause, brächte die Rettung.

Schicksalsergeben ist Alice bei der Verlobungsfeier kurz davor einzuwilligen, als sie aus dem Augenwinkel ein weißes Kaninchen im Gehrock sieht, das nervös auf seine viel zu große Taschenuhr tippt. Alice folgt ihm in das Erdloch. Und noch einmal findet sie sich im Wunderland wieder, dem Ort, den sie in ihrer Kindheit so oft bereist hat.

Tim Burton ließ Drehbuchautorin Linda Woolverton eine völlig neue Geschichte ersinnen, die lediglich einige der Motive aus den Alice-Büchern übernimmt. Im Wunderland ist nichts mehr, wie es war. Die Rote Königin (Helena Bonham Carter) hat die Alleinherrschaft an sich gerissen und ihre Schwester, die Weiße Königin (Anne Hathaway), ins Exil geschickt.

Als Alice zurückkehrt, wittert der Hutmacher (Johnny Depp) eine Chance, das Terrorregime der Neurosen-Queen zu beenden. Wie in einer Weissagung prophezeit, schickt er Alice in die Schlacht mit dem Jabberwocky, einem furchterregenden Reptilienmonster, das der Roten Königin ihre Macht sichert.

Wunderbar gelingen Burton die kleinen szenischen Momente. Insbesondere seine Frau Helena Bonham Carter setzt er kongenial als durchgeknallte Monarchin mit Wasserkopf in Szene, die als Opfer ihrer eigenen Unsicherheiten zwischen Zuneigungssucht, aristokratischer Borniertheit und tödlicher Willkür schwankt.

Ganz kann die überbordende Detailversessenheit, mit der Burton das Wunderland auferstehen lässt, allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neue Story nichts weiter als ein austauschbarer Heldenplot aus dem Baukasten gängiger Märchenmotive ist.

Das macht aus diesem 3D-Film, in den das Herstellungsstudio Disney im Fahrwasser des Überhits "Avatar" große Hoffnungen setzt, eine visuell beeindruckende Achterbahnfahrt, die bereits nach der dritten Kurve zur Routine wird. Es ist ein Scheitern auf recht hohem Niveau. Wahrscheinlich, weil man von einem Leinwandmagier wie Burton einfach mehr erwarten kann.

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