Kino Film „Ich. Du. Inklusion“: Schlechtes Zeugnis für die ersehnte Inklusion

In seinem Film „Ich. Du. Inklusion“ erzählt Thomas Binn von einer guten Idee, die im Schulalltag immer wieder an ihre Grenzen stößt.

Kino: Film „Ich. Du. Inklusion“: Schlechtes Zeugnis für die ersehnte Inklusion
Foto: Thomas Binn

Uedem. Die Klassentür öffnet sich, die Erstklässler strömen am Tag ihrer Einschulung in den Raum der katholischen Geschwister-Devries-Grundschule in Uedem (Kreis Kleve) und verteilen sich auf die Sitzplätze. Es ist der 21. August 2014, und nicht nur für die 21 Kinder dieser Klasse des ersten offiziellen Inklusionsjahrgangs der Schule beginnt ein großes Abenteuer.

Auch der Filmemacher und Sozialpädagoge Thomas Binn begibt sich mit dem Schuljahresbeginn auf völliges Neuland. Zweieinhalb Jahre lang wird er die Klasse immer wiederKino besuchen. Am Ende wird er an 70 Drehtagen rund 90 Stunden Material gesammelt haben. Aus ihnen ist der Dokumentarfilm „Ich. Du. Inklusion.“ entstanden. Seit dem 4. Mai ist er in den Kinos zu sehen.

Noch vor gut einem Jahr sah es nicht danach aus. Binn hat bis heute keinen Sender gefunden, die reinen Produktionskosten von 35 000 Euro sind komplett privat finanziert, der heute 47-Jährige stand kurz davor aufzugeben. Dann fand sich für seinen ersten Langfilm mit „Mindjazz Pictures“ endlich ein Verleih — zum Glück. Denn Binns Erstling ist eine Perle, gerade weil er auf jeden Kommentar aus dem Off und die Verlockung musikalischer Dramatisierungen verzichtet. Der Filmemacher beobachtet und hört zu, mehr nicht.

Dass der Film noch vor der Landtagswahl in die Kinos kommt, war ihm trotzdem wichtig. Weil ihm Inklusion wichtig ist: „Jeder, der klar denken kann, muss für Inklusion sein.“ Und weil das Thema im Wahlkampf wichtig war. Und weil Binn darüber aufklären will, was in den Schulen passiert, „wenn Anspruch auf Wirklichkeit trifft“, wie sein Film im Untertitel heißt.

Der Anspruch findet sich verklausuliert im Film selbst wieder: in einer Fabel, die der Pädagoge Binn mit den Kindern für eine Aufführung einstudiert. Es geht um eine Tierschule, die Begabungen und das jeweilige Unvermögen der verschiedenen Tiere und den Versuch, das alles zum gegenseitigen Nutzen zu verbinden.

Die Wirklichkeit, das sind hoch engagierte Lehrerinnen, Sonderpädagoginnen und Eltern, die nach besten Kräften versuchen, in einem Systemwechsel zu bestehen. Die aber auch immer wieder durch die Rahmenbedingungen an ihre Grenzen stoßen. Früher, beim Gemeinsamen Unterricht (GU) an ausgewählten Projektschulen, hätte einer Klasse mit so vielen förderbedürftigen Kindern wie in dem Film für wöchentlich 17 Stunden eine Sonderpädagogin zur Verfügung gestanden. Seit dem gesetzlichen Inklusionsanspruch in allen Schulen sind es noch sieben. Den Rest der Zeit ist die Klassenlehrerin allein.

Der Film zeigt, wie Sonderpädagogin Karin Winkels-Brinkmann in den Pausen von Schule zu Schule fährt. Dabei ist Binn überzeugt: „Man braucht verlässliche Beziehungen, um Inklusion gelingen zu lassen.“ Und weit mehr als das. Der Langzeitblick in den Schulalltag hat für ihn gezeigt: Es mangelt im Regelsystem an allem — an Differenzierungsräumen, Lehrmaterial, Personal, Geld. Im Bildungsbereich sei „Sparen das oberste Gebot“, klagt Schulleiter Johannes Nolte.

Binn räumt ein, dass viele Probleme aus dem Umbruch resultieren: Auf der einen Seite besteht das Förderschulsystem weiterhin, auf der anderen Seite haben die Regelschulen nun ebenfalls massiven Sonderpädagogen-Bedarf. Aber für beide Systeme gibt es gar nicht genügend Fachkräfte. Binn aber versteht sich und seinen Film als Sprachrohr der jetzt betroffenen Kinder. Auf ihrem Rücken werde der Umbruch ausgetragen. „Eine Lehrerin, die morgens zur Schule fährt mit dem Anspruch, die Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern, steht vor einer unlösbaren Aufgabe.“

Dabei genügt ihm ein Blick in seinen heimischen Kreis Kleve, um sicher zu sein, dass ganz ohne Förderschulen alles zusammenbräche. Erst ein knappes Drittel der 2100 Kinder mit Unterstützungsbedarf besucht mittlerweile Regelschulen wie die Geschwister-Devries-Schule in Uedem. „Aber wenn Inklusion schon in diesen dörflichen Strukturen nicht gelingt, wie soll das dann erst in der Großstadt funktionieren?“

Bei der Filmpremiere in Köln steht nach der Aufführung Andrea Franken auf der Bühne, Mutter von Matthis, einem der Kinder, von denen der Film erzählt. „Für mich ist das Wichtigste, dass mein Kind glücklich ist“, sagt sie. Binn will mit seinem ruhigen, unaufgeregten Film Fragen aufwerfen, welchen Beitrag schulische Inklusion in ihrer heutigen Form zu diesem Glück leistet: „Welche Wertschätzung bringen wir unseren Kindern entgegen? Wer muss die Last des Bildungsauftrages tragen? Und was tut die Politik, um der nachwachsenden Generation bestmögliche Chance zu bieten?“

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