Eurovision Song Contest Ein bisschen Frieden in Kiew? Der ESC in politischen Wirren

Der Song Contest soll eigentlich unpolitisch sein. Doch der Ukraine-Krieg wirft seine Schatten auf das Ereignis, das am Dienstag startet.

Kiew. Eigentlich sollte alles unpolitisch sein. Der Eurovision Song Contest (ESC) von Kiew hat das unverfängliche Motto „Vielfalt feiern“. Doch der Ukraine-Krieg vor der Tür wirft Schatten auf die große Party, die am Dienstag mit dem ersten Halbfinale beginnt.

Was war das im vergangenen Jahr ein Aufschrei, als nicht der favorisierte Beitrag aus Russland gewann, sondern die Ukraine die Siegestrophäe bei der 61. Auflage des Liederwettstreits erringen konnte. Weder die internationalen Jurys sahen den Titel auf dem ersten Platz, noch die Fernsehzuschauer. Die Addition der Punkte allerdings machte den zweiten Sieg der Ukraine möglich.

Sollte der ESC wirklich dort ausgetragen werden? Immerhin befindet sich das Land in einem Kriegszustand mit Russland. Und dieser Krieg macht auch vor dem ESC nicht halt: Die russische ESC-Kandidatin hat ihr Leben lang auf diesen Tag gewartet. Live auf einer großen Bühne soll Julia Samoilowa am 9. Mai auftreten. Vor Tausenden im Publikum wird sie ihre Ballade „Flame is Burning“ vortragen.

Jedoch: Nicht wie erhofft vor fast 200 Millionen Zuschauern. Nicht wie erwartet im Halbfinale des ESC. Nicht wie geplant in Kiew. Sie singt stattdessen in Sewastopol, auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Das hat eine trotzige Symbolkraft. Der Gastgeber Ukraine hat Russlands Kandidatin die Einreise zum ESC 2017 mit der Begründung verwehrt, dass sie 2015 bei einem Gala-Verbot auf der Krim aufgetreten sei. Die Ukraine sieht sich von Moskaus Entscheidung für Samoilowa provoziert.

Dabei sind die Statuten der Veranstalter eigentlich eindeutig: Alles ist rein unpolitisch, heißt es im Regelwerk der Europäischen Rundfunkunion EBU. „Kein Lied, kein Auftritt darf den ESC oder die EBU in Misskredit bringen“, heißt es. Politische Botschaften oder offene Streitereien zwischen Ländern sind verboten. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der Wettbewerb ist seit längerem eine Front für Animositäten und Konflikte. Die seit drei Jahren verfeindeten Nachbarn Ukraine und Russland tragen ihre Spannungen auch auf der Showbühne aus. Die EBU konnte diese Eskalation nicht verhindern.

Immer wieder war Russland, seit 1994 regelmäßig unter den Top 10 erfolgreich, im ESC wegen politischer Querelen mit anderen Ländern aufgefallen. 2009, wenige Monate nach der Georgien-Krise, hatte die EBU Tiflis untersagt, mit dem provokanten Titel „We don’t want to Put In“ teilzunehmen. War das Lied gegen Kremlchef Wladimir Putin gerichtet gewesen?

2014, im Jahr der Krim-Krise, wurden russische Sängerinnen während ihrer Performance ausgebuht. 2015 wurde die russische Favoritin Polina Gagarina vor einem Millionenpublikum bei der Punktevergabe mit Pfiffen und Buhrufen überhäuft. 2016 siegte dann die Krimtatarin Jamala mit dem umstrittenen Lied „1944“, das die Verbannungsgeschichte ihres Volkes erzählt. Russland, in letzter Minute von der Ukraine auf Platz drei verwiesen, war erbost. Sogar der Kreml und das russische Außenministerium witterten politische Motive hinter der Entscheidung.

Nun also findet der ESC nach 2005 erneut in Kiew statt. Doch wie hat sich das Leben in Kiew seitdem verändert? Damals wurde der Eurovision Song Contest noch nicht richtig wahrgenommen, man war nicht auf die ganzen Leute, Delegationen, Pressevertreter und Fans, die nach Kiew kamen, vorbereitet. Im Gegenteil, die damals stärker vorhandenen Sprachbarrieren erschwerten die Organisation.

Und das zu einer Zeit, als sich das Land nach der Orangenen Revolution im Umbruch befand. Jedoch fand sich auch die Neugier an dem, was da kam. So wurden die Akkreditierten von den wenigen Leuten angesprochen, die der englischen Sprache mächtig waren. Sie wurden freundlich von den Menschen empfangen. Die große Hilfsbereitschaft war etwas, das von den Menschen, die jetzt zum zweiten Mal nach Kiew gekommen sind, immer wieder erwähnt wird.

Auffällig waren auch die vielen Polizeikräfte, die überall zu sehen waren. Sei es auf der Straße oder auch im Bereich der Austragungsstätte oder am Pressezentrum — nach der Revolution war ein großes Aufgebot an Sicherheitskräften darauf bedacht, den ESC zu einem gelungenen Abschluss zu bringen. Ohne Zwischenfälle.

Die Ukraine orientierte sich in der Folge immer mehr Richtung Westen, was zu einer wirtschaftlich stabilen Lage führte. War 2005 der Euro etwa 25 Griwna wert, so steigerte sich die ukrainische Währung in der Folgezeit. Die Währungskursveränderung fiel zugunsten der ukrainischen Landeswährung aus: Für einen Euro erhielt man rund 11 Griwna. Mit dem Beginn der Krim-Krise verschlechterte sich die Lage zusehends — und der Währungskurs änderte seine Richtung. Zum jetzigen Zeitpunkt werden für einen Euro 28 Griwna ausgezahlt: das zweieinhalbfache des Betrags vor der Krim-Krise.

Wie 2005 wird auch in diesem Jahr viel unternommen, um den ESC in einem neuen Glanz erstrahlen zu lassen. So wurden beispielsweise über Nacht ganze Straßenzüge frisch geteert. Wie in den Vorjahren auch, wird es ein zentrales Event mit Rotem Teppich geben, bei dem die Künstler dem heimischen Publikum, den Fans und der Presse vorgestellt werden. Dieses Ereignis soll der längste Rote Teppich der Song-Contest-Geschichte werden. Mit dem Empfang des Bürgermeisters wird die große Feier eingeläutet, die mit dem Finale am 13. Mai endet.

Auch in der Innenstadt von Kiew kann das ESC-Treiben an mehreren Orten verfolgt werden: Es werden Bereiche extra fürs Public Viewing abgesperrt. Auch ein „Eurocafé“ für Bürger, Besucher und Fans wird eröffnet. In den großen Supermärkten gibt es Merchandising-Artikel, an markanten Plätzen sind riesige Blumenflächen mit überdimensionalen „Eurovision“-Logos zu sehen. Unterm Strich: In Kiew kommt man am ESC nicht vorbei. Die Stadt ist im Party-Modus. Und hat sich hübsch gemacht.

Der Gedanke, dass sich das Land im Kriegszustand befindet, wird beiseite geschoben. Selbst die vielen Sicherheitskräfte, die in der Stadt patrouillieren, lassen nicht den Gedanken an Krieg aufkommen — vielmehr, sagen auch Fans aus anderen Ländern, gebe ihnen die Polizeipräsenz ein Gefühl von Sicherheit und Schutz — etwa vor der abstrakten Gefahr von Terroranschlägen. Oder auch vor der mitunter noch vorhandenen negativen Einstellung gegenüber Homosexuellen. Denn obwohl das Motto „Celebrate Diversity“, also „Vielfalt feiern“, lautet, ist die Ukraine längst keine vorurteilsfreie Zone.

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