Dresdner Schriftsteller Debatte um Tellkamp-Äußerung zu Flüchtlingen: Die Meinungsfreiheit funktioniert

Die Debatte um die Äußerungen des Schriftstellers Uwe Tellkamp zu den Motiven von Flüchtlingen beweist vor allem: Der Untergang des Abendlandes bleibt weiter aus.

Dresdner Schriftsteller: Debatte um Tellkamp-Äußerung zu Flüchtlingen: Die Meinungsfreiheit funktioniert
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Düsseldorf. Manchmal hilft noch mal ein Blick in das Grundgesetz. In Artikel fünf heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Ihre Beschränkung finden diese Freiheiten nur „in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“. Was nicht im Grundgesetz steht: dass eine Meinungsäußerung unwidersprochen bleiben muss oder nur auf positive Resonanz treffen darf.

Der in Dresden geborene und aufgewachsene Schriftsteller Uwe Tellkamp („Der Turm“) hat bei einer Diskussion mit seinem Dresdner Lyrikerkollegen Durs Grünbein in seiner Heimatstadt am 8. März allerlei von sich gegeben. Zu den Motiven von Flüchtlingen: „Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent.“ Über Meinungsfreiheit: In Deutschland existiere ein „Gesinnungskorridor zwischen gewünschter und geduldeter Meinung“: „Meine Meinung ist geduldet, erwünscht ist sie nicht.“

Weil Tellkamp nicht irgendwer ist, sondern ein erfolgreicher Suhrkamp-Autor, lösen seine Äußerungen eine heftige Debatte aus. Sein eigener Verlag betont via Twitter, dass die Meinung des Autors nicht mit der Meinung des Verlages zu verwechseln sei, was viele als Distanzierung verstehen. Später stellt Suhrkamp aber klar, weiter mit Tellkamp arbeiten zu wollen. Auch ansonsten zeigen die Reaktionen, dass die von Tellkamp befürchtete „Gesinnungsdiktatur“ noch so weit entfernt ist wie der Untergang des Abendlandes.

Eine drohende „Gesinnungsdiktatur“ hatte schon die „Charta 2017“ an die Wand gemalt, mit der sich Buchhändler und Autoren im Oktober des vergangenen Jahres gegen vermeintlich unfairen und intoleranten Umgang mit rechten Verlagen bei der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr wandten. Einer der Unterzeichner: Uwe Tellkamp. Und natürlich erntet er auch jetzt wie damals Gegenwind.

Vor allem seine „95 Prozent“-Aussage wird schnell als haltlos zerpflückt. Die Satireseite „Die Wahrheit“ der Berliner „Tageszeitung“ ätzt auch über „seine unlesbaren Romanungetüme“, „bis zum Rand gefüllt mit konservativem Seich“.

In einem differenzierten Text setzt sich der Grünen-Vorsitzende und Schriftsteller Robert Habeck in seinem Blog kritisch mit Tellkamp auseinander. Dessen Klage, mit seiner Meinung nicht erwünscht zu sein, bedeute „entweder Opportunismus oder gelenkte Literatur. Es ist ja gerade das Schreibethos der meisten Schriftsteller, meinungsstark auch gegen den Mainstream sein zu wollen.“ Vor allem aber hält Habeck Tellkamp vor, ihm gehe es „nicht um Argumente, nicht um richtig oder falsch, sondern um Gesinnung, die unabhängig von Fakten ist. Damit überschreitet auch er eine Grenze, die inzwischen vielfach überschritten wird.“

Tellkamps Klage über seine angeblich unerwünschte Meinung verwundert auch seine Kollegin Lena Gorelik. „Man darf alles sagen, aber man wird nicht immer dafür von allen beklatscht. Und manchmal erzeugt man eine Reaktion, eine Gegenmeinung. Das ist kein Denkverbot, das nennt man Debatte oder, wenn man größer denkt, sogar Demokratie“, schreibt sie in der „Jüdischen Allgemeinen“.

Aber Tellkamp erhält andererseits viel Unterstützung — und zwar nicht nur von der AfD, die ihn schnell zu einer ihrer intellektuellen Ikonen auserwählt, oder der Wochenzeitung „Junge Freiheit“, Sprachrohr der Neuen Rechten. Der Kolumnist Harald Martenstein verteidigt unter der Überschrift „Vom Recht, nicht links zu sein“ im Berliner „Tagesspiegel“ Tellkamps Flüchtlingssatz als „polemisch und zugespitzt“ und zieht dafür ähnliche Aussagen von Sigmar Gabriel und sogar aus dem Parteiprogramm der Grünen heran. Die Schriftstellerin Monika Maron wirft dem Suhrkamp-Verlag im „Deutschlandfunk“ vor, er habe „seinen Autor verraten“.

Auch der langjährige Feuilleton-Chef der „Zeit“, Ulrich Greiner, warnt in der Wochenzeitung davor, Tellkamp in die rechte Ecke zu stellen. „Der notorische Hinweis, die konservativen oder rechten Diskussionsteilnehmer hätten doch alle Publikationsmöglichkeiten, führt in die Irre.“ Denn wer sich öffentlich äußere, wolle auch als seriöser Gesprächspartner wahrgenommen werden. „Stattdessen wird er verächtlich gemacht, abqualifiziert, absichtsvoll missverstanden. Der Resonanzraum, auf den jeder am Gedankenaustausch Interessierte dringend angewiesen ist, wird stumm.“ Bei den politischen Extremen werde in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen.

Dass es einen Verlust an aufrichtigem und aufmerksamem Debatteninteresse mit politisch Andersdenkenden gibt, ist dabei gewiss eine bedenkenswerte Diagnose. In der Summe finden sich allerdings in der Tellkamp-Debatte doch gerade alle Spielarten öffentlicher Auseinandersetzung wieder: die polemische Replik, die Attacke, das undifferenzierte Schubladendenken, die kluge Gegenrede, die nachdenkliche Verteidigung — also das Gegenteil eines gleichmacherischen Mainstreams. Und die wuchtige Wirkung könnte eher Folge fortwährender Vervielfältigung und Ergänzung auf allen Medienkanälen sein.

Die Behauptung einer linken Meinungsführerschaft und eines vermeintlichen „Gesinnungskorridors“ legt daher noch eine andere Lesart der Debatte nahe: Dann dient sie als Beleg einer sich verfestigenden Lust des Konservatismus und der Neuen Rechten an der Opferrolle als Mittel zur Identitätsstiftung. „Die ständige Behauptung der Unterdrückung führt aber auch in die inhaltliche Selbstummauerung, in eine Sektenhaftigkeit, in der das wohlige Gefühl des gemeinsamen Erduldens gesellschaftlichen Unrechts existenziell wird“, schreibt Anna Sauerbrey in dieser Woche im „Tagesspiegel“. Ihr Appell an Tellkamp & Co.: „Kommt raus aus der Schweigespiralen-Schmollecke!“ Beim Schriftsteller ist dieser Appell offenbar noch nicht angekommen: Seine in diesem Monat geplante Lesereise hat er abgesagt.

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