Couch-Kino Wie ich meine Videothek mit Netflix betrogen habe

Special | Wuppertal · Der Streaming-Boom wurde durch die Corona-Krise weiter befeuert – die WZ gibt Tipps zu digitalen Film- und Serien-Schätzen.

 Ausverkauf: So endete das Geschäft in den vergangenen Jahren bei unzähligen Videotheken. Der digitale Fortschritt forderte seinen Tribut.

Ausverkauf: So endete das Geschäft in den vergangenen Jahren bei unzähligen Videotheken. Der digitale Fortschritt forderte seinen Tribut.

Foto: dpa/Wolf von Dewitz

In einem alten abgewetzten Portemonnaie fiel sie mir neulich noch einmal in die Hände: die Karte meiner Stamm-Videothek. Die Kratzspuren auf dem Plastik erinnerten mich an ihre bewegte Vergangenheit. Vor zehn Jahren rutschte die gelbe Plastikkarte noch regelmäßig über die Theke des Videoverleihers um die Ecke. Dort gab es das Angebot: drei Filme leihen, zwei zahlen. Vielleicht nach einem einschlafen.

Ich erinnere mich noch an meine ersten Spaziergänge durch die prall gefüllten Regalreihen. Die Vielfalt der Möglichkeiten konnte einen paralysieren. Soll es eine Neuerscheinung sein oder ein Klassiker? Komödie, Horror oder Drama? Spielberg, Hitchcock, Tarantino? Nicht selten verbrachte ich die Laufzeit eines kurzen Spielfilms damit, zwischen den ganzen Optionen zu einer Entscheidung zu gelangen.

Schließlich war ich so viel Auswahl damals nicht gewohnt. An Filmen gab es ohne die Videothek eben das zu sehen, was sich irgendwelche Programmchefs der TV-Privatsender überlegt hatten. Das waren im besten Fall Filme, die vor zwei, drei Jahren im Kino liefen und dort ihre Massentauglichkeit bewiesen hatten. Manchmal lief nur Pest oder Cholera. Wenn überhaupt ein Spielfilm kam. War nicht gerade die deutsche Prime-Time angebrochen – 20.15 Uhr – gab es eben statt Hollywood nur Lindenstraße. „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“, hat meine Oma immer gesagt. Das hat ein hungriger Filmfan dann so lange mitgemacht, bis er das erste Mal in einem Restaurant à la carte bestellen durfte. Innerlich schwor ich der Videothek ewige Treue.
Gut, dass ich das niemandem schriftlich gegeben habe. Denn 2020 geht in dem Ladenlokal, in dem früher in meinem Viertel die Blockbuster lagerten, ein China-Imbiss seinem Geschäft nach. Und ich bin nicht unschuldig daran. Von 2000 bis 2010 halbierte sich in Deutschland die Zahl der DVD-Ausleihen. Inzwischen sind Videotheken so exotisch wie Schallplattenläden und Telefonzellen. Dabei ist nicht das Interesse an individuell zugeschnittenem Filmgenuss geschwunden, es erscheint inzwischen jedoch aberwitzig, einen Film nach dem Ansehen wieder irgendwo zurückzugeben. Das Internet wurde immer leistungsfähiger und Massenspeicher-Medien wie DVDs oder Blu-Rays entwickelten sich in der Folge zu reinen Sammlerstücken. Die traurige Wahrheit: Niemand braucht mehr den Mittelsmann in der Videothek mit seinen zerkratzten Schreiben.

Filme und Serien in hochauflösender Qualität sind heute rund um die Uhr bei diversen Streamingdiensten abrufbar. Der Boom ist gewaltig, gerade in Corona-Zeiten. Jeder dritte Deutsche schaut Netflix, jeder vierte Amazon Prime. Filmgenuss auf Knopfdruck ist die Devise. Gerade der Branchenkönig mit den roten Lettern produziert gefühlt mehr fiktiven Stoff als ein Mensch alleine konsumieren kann. Leidet darunter nicht die Qualität? Darüber lässt sich natürlich streiten. Der allgemeine Konsens der Kritiker lautet: Zumindest was Serien angeht, hat irgendwann vor zehn bis zwölf Jahren das „goldene Zeitalter“ begonnen. Das einstige Qualitäts-Delta zwischen Filmen und Serien ist verschwunden. Hochkarätige Regisseure wie Martin Scorsese („Boardwalk Empire“) oder David Fincher („Mindhunter“) produzieren Hochglanz-Serien und Filmstars wie Matthew McConaughey („True Detective“) oder Julia Roberts („Homecoming“) sind sich für den heimischen Fernseher nicht mehr zu schade. Im Gegenteil: Das Medium „Serie“ wird zunehmend dazu genutzt, epische Geschichten zu erzählen, deren Tiefe und Dramatik sich in zwei Stunden niemals in all ihren Ausmaßen hätte entfalten können.

Martin Scorsese zeigt der großen Leinwand die kalte Schulter

Gleichzeitig lösen sich die Serien dank Netflix und Co. von den formalen Fesseln der US-Sender und profitieren inhaltlich davon. Früher mussten die Autoren dramaturgisch um die zahlreichen Werbeblöcke herum schreiben und jede Serienfolge hatte auf die Minute genau die gleiche Länge, um in den Sendeplan zu passen. Außerdem wurde oftmals pro Staffel mehr Stoff von den Sendern verlangt als es dem Serienstoff gut tat. An sich ausgezeichneten Serien wie „Akte X“ oder „Lost“ gingen bei 24 Folgen und mehr pro Jahr nach hinten raus die Luft aus. Daraus haben die „Showrunner“ von heute ihre Lehren gezogen: Eine moderne Drama-Serie hat inzwischen acht bis 13 Folgen und die einzelnen Folgen sind im Idealfall genau so lang wie sie sein müssen, um als Einheit Sinn zu ergeben. Beim Streaming ist alles erlaubt.

Doch die Serien haben die Filme für mich nicht vollständig verdrängt. Denn auch auf diesem Sektor sind die Streaminganbieter stark. In meiner virtuellen Videothek stehen nämlich nicht nur die alten Schinken von damals. Nein, mein digitaler Verleiher hat auch noch seine eigenen Filme im Angebot. Und da findet der Filmfan mitunter Streifen, die in den 1990er Jahren als große Blockbuster die Kinoränge gefüllt hätten. Streaming-Freund Martin Scorsese etwa drehte 2019 wieder mit seiner klassischen „Gangster-Riege“ um Robert de Niro, Al Pacino und Joe Pesci. „The Irishman“ ließ sich Netflix 159 Millionen US-Dollar kosten, überzeugte die Kritiker und erschien (ausgenommen ein paar Ausnahme-Vorführungen) exklusiv auf der digitalen Streaming-Plattform, die so den Kinos das Leben zunehmend schwer gemacht hat. Im Corona-Jahr 2020 zementiert sich die Übermacht der Streaming-Riesen weiter.

Ein bisschen schade ist es sicher, dass die Videothek mit ihrer ganz eigenen Atmosphäre der Vergangenheit angehört. Eigentlich bin ich doch immer gerne hingefahren, denke ich, als meine „Mitglieds-Karte“ im Mülleimer versinkt. Vieles ist heute anders, aber eine Sache ist beim „Video on demand“ geblieben: Diese Überforderung angesichts der vielen Möglichkeiten. Allein Netflix bietet mir knapp 3000 Film- und Serienoptionen. Würden nicht schlaue Algorithmen für mich ermitteln, was mich interessieren könnte und was gerade angesagt ist, würde ich wahrscheinlich mehr Zeit mit Suchen als mit Schauen verbringen. Gold wert sind da gute Tipps, welche Serien und Filme gerade einen zweiten Blick lohnen und welche spannenden Stoffe in den vergangenen Jahren für Furore gesorgt haben.

Vor allen Dingen verschweigen mir Netflix und Co. bei ihren automatisierten Empfehlungen, warum ich zum Beispiel die US-Serie „Ozark“ gucken sollte. „Weil du ,Breaking Bad’ geguckt hast“, sagt mir mein Freund der Roboter. Da hatte der Filmfreak in der Videothek bessere Argumente, mehr Enthusiasmus. In der unüberschaubaren Welt der Streaming-Möglichkeiten braucht es einen Wegweiser. Einen menschlichen. Wir starten mit dieser Kolumne so einen Versuch. Wegen Corona noch ein paar Abende frei? Das trifft sich gut. Es gibt viel zu sehen.

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