Couch-Kino Von den Simpsons zu BoJack Horseman: Wie die Zeichentrick-Serien erwachsen wurden

Die „Simpsons“ machten animierte Gesellschaftskritik zum Trend - heute erforschen Serien wie „BoJack Horseman“ die emotionale Tiefe von Trickfiguren.

 BoJack Horseman ist zwar eine Animationsserie, hat aber in vielen Folgen die Tragweite eines Dramas.

BoJack Horseman ist zwar eine Animationsserie, hat aber in vielen Folgen die Tragweite eines Dramas.

Foto: Courtesy of Netflix

1992 sagte US-Präsident George H.W. Bush: „Wir werden weiter versuchen, die amerikanische Familie zu stärken, so dass amerikanische Familien viel mehr wie die Waltons und viel weniger so sind wie die Simpsons.“ Diese Äußerung war in Wirklichkeit weniger ein Lob für die klassische 70er Jahre Serie „Die Waltons“, sondern eine Art Ritterschlag für die Macher der Serie „Die Simpsons“. Schließlich bedeutete dieser Kommentar zwei Dinge:  Einerseits hat sich eine Zeichentrickserie nur drei Jahre nach ihrer Premiere 1989 derart ins amerikanische Bewusstsein gebrannt, dass der US-Präsident über sie spricht. Andererseits waren die Simpsons damit offiziell die „bad guys“, die bösen Buben. Was kann einer Cartoon-Serie, die subversiv und rebellisch sein will, denn Besseres passieren? Wenn bei den „Simpsons“ ein Amerika gezeigt wird, in dem ein Familienvater seinen Fernseher vergöttert, aber seinen Sohn vernachlässigt, in dem die Schule so arm ist, dass im Computerraum ein einziger Rechner steht, in dem der Bürgermeister korrupt und die Polizei inkompetent ist, in der am Ende manchmal der Dümmste und Dreisteste über den Schlausten und Ehrlichsten triumphiert und in dem sich die Bewohner der fiktiven Stadt Springfield bei jedem kleinsten Anlass zu einem wütenden Mob zusammenschließen - dann legen die Macher absichtlich den Finger in die Wunde eines taumelnden Amerikas. Ein Anzeichen, dass es wirklich schmerzt, ist wohl, wenn der Präsident sich zu Wort meldet.

Wenn man einen Moment festmachen will, vielleicht war es dieser, als die Zeichentrick-Serie erwachsen wurde. Nicht, dass Kinder die Simpsons nicht mochten. Sie liebten sie. Allerdings verstand es Anfang der 1990er Jahre noch keine andere gezeichnete Serie so gut, verschiedene Altersgruppen anzusprechen. Das Kind lachte über die infantilen Streiche von Bart Simpson, der Heranwachsende freute sich über die (für damalige Verhältnisse) freizügige Darstellung von Gewalt und unzüchtigem Verhalten und der Erwachsene fühlte sich angesichts der vielen Verweise auf Literatur, Musik und Popkultur angesprochen.

In nur wenigen Jahren eroberten die Simpsons die Welt im Sturm. Das ist in diesem Fall keine Floskel. Die Vermarktung der Familie aus der fiktiven Stadt Springfield war gerade in den 90er Jahren beispiellos. Auf den entlegensten Märkten der Welt ließen sich plötzlich nicht lizensierte T-Shirts mit den gelben Gesichtern von Bart und Homer kaufen.

Natürlich waren nicht alle froh darüber, dass Kinder und Jugendliche mit Bart und Homer zwei Figuren ins Herz geschlossen hatten, die das Gegenteil von Vorbildern sind. Die Familie, die Schule, die Kirche, der Staat - nichts schien den Simpsons heilig, was zunächst bei einigen Pädagogen, Kirchenvertretern und Konservativen zu Kritik führte. Nur zu leicht ließ sich mit dem Finger auf diese gelbe Familie zeigen, die scheinbar in jeder Hinsicht fehlerbehaftet ist und dies auch noch schamlos zur Schau trägt.

Hätten die Bedenkenträger geahnt, was noch kommen sollte, wären sie wahrscheinlich nicht so hart mit den Simpsons ins Gericht gegangen. 1997 wird die Serie „South Park“ der neue Schreck im Kinderzimmer und hob die Prämisse, das alles und jeder durch den Kakao gezogen werden darf, auf ein neues Level. Mit den Jahren werden sukzessive Grenzen ausgetestet. Ende der 90er Jahre schockierte allein schon, dass die vier Hauptfiguren fluchende und unflätige Grundschüler sind, die regelmäßig mit Gewalt, Sex und Drogen in Kontakt geraten. Und einer von ihnen - Kenny - starb damals noch in jeder Folge auf besonders grausame Weise. In der fünften Staffel veröffentlichen die Macher Trey Parker und Matt Stone eine Folge, in der das Schimpfwort „shit“ 162 mal unzensiert ausgesprochen wird. Ein absolutes Novum im amerikanischen Fernsehen, wo solche Ausdrücke normalerweise mit einem Piepton überlagert werden. In den nächsten Tagen erreichten den amerikanischen Sender „Comedy Central“ 5000 wütende Mails. Die Logik der Aktion: ein „shit“ ist ein Tabubruch, 162 „shits“ - das ist Kunst.

Im Laufe der Jahre reiften die „South Park“-Macher von infantilen Provokateur zu Meistern der hochaktuellen Politik- und Sozialkritik. Da sich die Serie mit ihrem kruden Animationsstil in nur wenigen Tagen produzieren lässt, entscheiden die Macher in späteren Staffeln erst Tage vor der geplanten Ausstrahlung, mit welchen aktuellen Themen sich die Figuren in der nächsten Folge auseinandersetzen sollen. Das gefällt. So kommt es, dass South Park seinen US-Zuschauerrekord 2010 in der 14. Staffel erreichte. Jahre nachdem anderen Serien - auch den Simpsons - normalerweise kreativ die Luft ausgeht, räumten die South Park-Macher noch regelmäßig Fernsehpreise ab (darunter vier Emmys).

Unerschrocken und schonungslos widmen sich die Macher der Finanzkrise, Online-Spielesucht, Rassismus, Missbrauch in der Kirche und zeigen schließlich zum 200. Showjubiläum eine Doppelfolge, die sich dem Thema der Zensur widmet. Im zweiten Teil sollte eigentlich der muslimische Prophet Mohammed seinen großen Auftritt haben. Nachdem die South-Park-Macher sich nach der Ausstrahlung mit Morddrohungen konfrontiert sahen, entschied sich der Sender „Comedy Central“ einzugreifen und zensierte in letzter Sekunde die zweite Folge, ließ Mohamed mit einem schwarzen Balken überdecken und entfernte Teile eines Monologs über freie Meinungsäußerung. Skurril ist, dass die Macher letztlich an einem Tabu scheiterten, das sie bereits 2001 ohne große Widerstände gebrochen hatten. Damals, vier Jahre bevor in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten die berüchtigten Mohammed-Karikaturen abgedruckt wurden, trat der Prophet an der Seite von Jesus als Superheld in einer South-Park-Folge auf. Damals noch unzensiert.

Heute, mehr als 30 Jahre nach dem Siegeszug der Simpsons, haben animierte Figuren in unzähligen Serien alle erdenklichen Grenzen verschoben. Simpsons-Klone, die sich zu sehr darauf ausgeruht haben, aus dem Selbstzweck heraus zu provozieren, sind in einer Sinnkrise angekommen. Wie schockiert man Zuschauer, die schon längst nichts mehr schocken kann? Wie profiliert man sich in einer Gruppe von Rebellen als Rebell?

Eine neue Generation von Zeichentrick-Serien, die auf ein erwachsenes Publikum abzielen, besinnen sich auf eine andere Zutat des Erfolgsrezepts zurück, welches die Simpsons in ihrer Blütezeit zum Serienhit gemacht hat. Obwohl Homer & Co. nur gezeichnet sind, hat Matt Groening liebenswerte Figuren geschaffen, die gerade auch durch ihre Makel viele Zuschauer angesprochen haben. Während die wechselnden Simpsons-Showrunner speziell in den frühen 2000er Jahren begannen, die eigenen Figuren zu überzeichnen und sie damit zu reinen Karikaturen degradierten, verstehen es neuere Animations-Serien, das Charakterdrama wieder in den Vordergrund zu stellen.

Bestes Beispiel dafür ist „BoJack Horseman“ auf Netflix. Die Hauptfigur in der Zeichentrick-Serie ist ein zynischer Alkoholiker, der als Schauspieler schon vor Jahrezehnten seinen Zenit überschritten hat und nun als egomaner B-Promi seinen Weggefährten das Leben schwer macht. In ihren sechs Staffeln schreckt die preisgekrönte Serie nicht vor tottraurigen Szenen zurück und spielt trotz ihrer vielen komischen Elemente (die Hälfte der Serien-Figuren sind anthropomorphe Tiere, die andere Hälfte Menschen) in einer Liga mit „ernsthaften“ Drama-Serien.

Auch „Rick & Morty“ kann die Simpson-DNA nicht verleugnen. Die gelben Vorreiter legten Anfang der 90er Jahre ein bis dato nicht gesehenes Comedy-Tempo vor. Jede einzelne Szene läuft vor Gags über. Witze stecken in den Dialogen, in der Animation und waren sogar im Hintergrund versteckt. Die Netflix-Serie „Rick & Morty“ kommt ebenfalls mit einem rasanten Tempo daher und reizt die fantastische Dimension, die in der Werkzeugkiste jeder Zeichentrickserie steckt, nur zu gerne aus. In der schwarzhumorigen Serie kommen vor allen Dingen Science-Fiction-Fans auf ihre Kosten, denn einige Abenteuer des genial-verrückten Wissenschaftlers Rick und seinem Enkel Morty führen wohl zu den abgedrehtesten Serien-Momenten, die man derzeit auf Netflix erleben kann.

Ein Beispiel: In einer berüchtigten Folge der zweiten Staffel teilt sich das Geschehen ab einem bestimmten Zeitpunkt in immer mehr mögliche Zeitleisten, die sich jeweils in kleinen Details unterscheiden. Das Besondere: Jedes Mal, wenn sich die Zeit erneut teilt, teilt sich auch der Bildschirm, so dass der Zuschauer zum Höhepunkt der Folge 64 unterschiedliche Realitäten in kleinen Fenstern gleichzeitig verfolgen kann. Der Regisseur des Spektakels ist Wes Archer - einer der Simpsons-Pioniere.

Er hatte 1996 übrigens auch in der Folge Regie geführt, in der Homer seinen neuen ungeliebten Nachbarn vermöbelt: George Bush senior. Ein augenzwinkernder Rache-Akt. Gastauftritte von Promis in dieser Art sind im Laufe der Jahre eine Spezialität der Animationsserien geworden. Geliebte Stars dürfen ihre Rollen selbst sprechen und lassen sich gerne durch den Kakao ziehen. Unbeliebtere Figuren - wie damals Bush und heute Donald Trump - werden imitiert.

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