Ulrich Khuon über die Kraft des Theaters

Berlin (dpa) - In Zeiten von Wirtschaftskrise, Integrationsdebatte und Internet kommen dem Theater und der Kunst mehr Bedeutung zu denn je. Davon ist jedenfalls der Intendant des Deutschen Theaters Berlin, Ulrich Khuon (59), überzeugt.

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa sagt der Vorsitzende des künstlerischen Ausschusses des Deutschen Bühnenvereins: „Theater ist ein starker Trainingsplatz für Gemeinsamkeit. ... Kunst kann etwas für die Gesellschaft tun.“ Khuon sagt auch, dass Theater immer realitätsnäher werde und die Politik dafür immer theatralischer.

Etliche Theater stehen wegen Subventionskürzungen sozusagen mit dem Rücken zur Wand. In Protestaktionen bekunden viele Menschen ihre Solidarität mit Bühnen wie dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg oder dem Bonner Theater. Wie erklären Sie sich das?

Khuon: „Eine Bevölkerung merkt, wenn das geistige Klima in den Städten kaputtgeht. Und wenn es keinen kulturellen Austausch mehr gibt. Gerade jetzt, wo interkulturelle Erfahrungen immer wichtiger werden, spürt man doppelt deutlich, wie wichtig Kultur ist. Und dass der einzelne Mensch immer eingebettet ist in einen kulturellen Erfahrungshorizont. Er kann ja auch den jeweils anderen Deutungshorizont besser aufnehmen, besser mit ihm ins Gespräch kommen, wenn er seine eigenen Wurzeln kennt. Wir leben von Voraussetzungen, die wir teilweise unbewusst in uns aufgenommen haben, und es ist gut, sich das immer wieder zu vergegenwärtigen und den Stimmen der anderen Kulturen Raum zu geben. Dabei helfen die Theater.“

Was können Kunst und Theater im interkulturellen Dialog leisten?

Khuon: „Da können die Künste sehr viel leisten, weil sie nicht didaktisch vorgehen, sondern sinnlich. Man kommt so in ein Gespräch, ohne diese angstvolle Angestrengtheit - und es gibt keinen pädagogischen Zeigefinger.“

Steigt die Bedeutung von Kunst und Theater in Krisenzeiten?

Khuon: „Ja, ich finde, dass man in der Wirtschaftskrise doppelt genau fragt: "Wer bin ich, warum bin ich hier, welche Zusammenhänge halten mich, welche nicht?" In einer gemeinsamen, globalisierten Welt wird uns bewusst, dass wir gesprächsfähiger werden müssen - und das bedeutet nicht, standpunktarm zu werden. Gerade wenn ich einen dezidierten Standpunkt habe, bin ich eher gesprächsfähig. Es sei denn, ich bin dogmatisch. Und die Künste sind das Gegenteil von dogmatisch, die sind fundiert. Alle Kulturen haben immer kommuniziert, waren sozusagen porös, haben anderes in sich aufgenommen. Die Kunst ist nicht das letzte Wort, wenn es um Konflikte geht oder um Begegnungen, sondern sie ist eher das erste Wort. Die ganze Frage der Unterschiedlichkeit - auch die der Religionen - wird seit Jahrhunderten im Theater thematisiert. Das ist heute mehr denn je notwendig.“

Wo liegen die Aufgaben des Gegenwartstheaters?

Khuon: „Die Hauptfrage ist: Wie können wir das spiegeln, was die Gesellschaft wesentlich ausmacht. Die Frage, wie wir Minderheiten begegnen - das können religiöse sein, nationale aber auch andere Formen von Minderheiten - wie wir die Differenz wahrnehmen, das zu zeigen, ist eine ganz wesentliche Aufgabe von Theater. Es ist eine Gefahr, dass die Gesellschaft depressiv wird, mutlos, antriebsschwach, sich nichts mehr zutraut, so dass sie großen Bewegungen eher mit Skepsis begegnet. Die Kunst ist da mit ihrer sinnlichen und intellektuellen Kraft ein gutes Gegenmittel. Theater ist ein starker Trainingsplatz für Gemeinsamkeit.“

Kann Theater den Alltag der Menschen beeinflussen, inwieweit orientiert es sich an der Alltagsrealität?

Khuon: „Es gibt immer mehr Projekte, die sich jenseits der geschriebenen Stücke mit Realität beschäftigen, die Spezialisten des Alltäglichen direkt sprechen lassen auf Bürgerbühnen, Theaterclubs und in vielen anderen Projektformen. Es gilt darüber hinaus Dokumentarisches, Interviews, Wirklichkeitspartikel künstlerisch zu gestalten, also das Authentische quasi nachzuspielen. Das führt zu einer aufregenden neuen Sicht des scheinbar gesichert Realen. Zudem ist unsere Gesellschaft längst eine, die von vielen nationalen, kulturellen und religiösen Quellen ausgeht. Das muss sich mehr und mehr auf den Bühnen zeigen.“

Welche Trends gibt es, wo geht es hin?

Khuon: „Das Theater wird vermehrt bestimmte Polaritäten und Spannungen gestalten. Es wird sich internationaler verknüpfen und zugleich noch genauer die Wirklichkeit vor Ort erforschen. Es wird mehr Teilhabe derer, über die es spricht, erreichen und auf der anderen Seite die Möglichkeit des ruhigen Blicks von außen zulassen. Es wird die Wirkung der elektronischen Medien integrieren und reflektieren, weil wir in einer Welt leben, die davon durch und durch bestimmt wird ­ nicht, weil man den Mitteln der Sprache nicht mehr traut.“

Hat Theater in einer Welt der virtuellen Wirklichkeiten eine Chance?

Khuon: „In der virtuellen Welt der Internetforen kann man sich jeder Form von Verbindlichkeit entziehen. Je mehr sie uns erobern, desto mehr spüren wir, dass wir die konkrete Realität auch brauchen. Dass man jemandem gegenübersitzt, mit dem man sich austauscht, dass man weiß, wer er ist, dass man weiß, der hört mir jetzt zu und er ist vielleicht auch für mich da, wenn ich diese Nähe brauche.“

Warum geht man überhaupt noch ins Theater?

Khuon: „Warum geht überhaupt noch jemand in ein Fußballstadion? Das kann man sich ja auch alles im Fernsehen anschauen. Wer ins Stadion geht, muss zahlen, muss eventuell in der Kälte rumstehen - aber für Dinge, die einem wichtig sind, gibt man auch gerne Realzeit her. Auch für den Theaterbesuch bereitet man sich vor, informiert sich, worum es geht. Man hat doch die Sehnsucht, bestimmten Dingen wie Kunst, Sport oder Freundschaft Zeit zu opfern. Dadurch werden sie ja auch wichtiger. Viele tun das gerne für besondere Orte der Begegnung mit einer verdichteten Wahrnehmung - wie Theater.“

Es gibt heute auch in der deutschen Politik den Hang zur Selbstinszenierung. Auf der anderen Seite ist Authentizität gefragt und brachte zum Beispiel der Sängerin Lena mit ihrer Natürlichkeit Riesenerfolg. Ist das kein Widerspruch?

Khuon: „In der Gesellschaft gibt es eine große Verunsicherung. Viele Prozesse entziehen sich unserer Einflussnahme, wir fühlen uns ohnmächtig. Alles ist hinterfragbar: die eigene Religion, die eigene politische Einstellung. Man stellt dauernd den Kompass neu ein. Trotzdem will man Orientierung. Und die findet man dann ganz stark in dem, was man für authentisch hält. Lena wirkt authentisch und stärkt das Gefühl, das könnte jeder von uns. Und sie war ja auch sehr bei sich und hat ihre Realität auf die Bühne gezaubert. Auch der Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gilt in diesem Jahr zumindest mit sich selber sehr im Reinen. Er ist sozusagen die Authentizitäts-Alternative zu Lena: adelig, attraktiv, jung und doch meinungsstark. Die Afghanistan-Reise des Paares zu Guttenberg soll dieses Ganz-bei-sich-Sein wohl noch unterstreichen. Familie und Beruf fallen in eins. Merkwürdigerweise geschieht aber eher das Gegenteil. Das Inszenierte dieser Paar-Performance schiebt sich unangenehm in den Vordergrund. Eine Tendenz wird spürbar: Das Politische wird theatralischer ­ das Theater möglicherweise wirklichkeitshaltiger.“

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