Ruhr 2010: Wetterfest und stur

Seit Samstag sind Essen und das Ruhrgebiet offiziell Kulturhauptstadt. Rund 200.000 Menschen kamen zur Zeche Zollverein.

Essen. Die Tänzer schlidderten auf der Bühne durch Streusalz, in die Saxofone rieselte der Schnee, und als Bundespräsident Horst Köhler wieder in seine Limousine stieg, zog ein Vater mit seinem Kind auf dem Schlitten ungerührt am Staatsoberhaupt vorbei. Das Ruhrgebiet hat am Samstag in der einst größten Zeche Europas eine Eröffnungsfeier hingelegt, die zum Charakter der Region passt: ungerührt von großen Namen und von der drohenden Schneewalze des Tiefs "Daisy". Eben "wetterfest", "schlicht" und "stur", wie es der im Ruhrgebiet aufgewachsene Pop-Sänger Herbert Grönemeyer in seiner für die Eröffnung komponierten "Ruhr-Hymne" beschrieb.

Trotz tagelanger Spekulationen über eine mögliche Absage wegen des Schneeeinbruchs und vor allem des scharfen Nordostwindes ließ sich 2010-Chef Fritz Pleitgen mit der Eröffnungsfeier nicht beirren. "Das wird durchgezogen, wir zittern für eine gute Sache", sagte er. Der Mut wurde mit einem einmaligen Ambiente belohnt. Die Bühne direkt neben der stillgelegten Kokerei bot genau den Kontrast, den Pleitgen sich erhofft hatte: Vor den Überbleibseln der harten Industriearbeit des "alten" Ruhrgebiets präsentierten Schauspieler, Tänzer, Rapper und Bochumer Symphoniker die Kultur, die dem Revier den Weg in die Zukunft erleichtern soll.

Dass es dabei fast die ganze Veranstaltung über feinen Pulverschnee schneite, gab der Feier etwas heiter-ungezwungenes. Der Bundespräsident Horst Köhler schwenkte gut gelaunt seinen Hut und rief in Richtung Tribünen: "Es könnte gar nicht besser sein."

Bei der Eröffnungsfeier sagte Köhler: "Früher qualmten in dieser Region die Schlote. Statt der Kohle von unter Tage werden nun die Ideen gefördert, die in den Köpfen und Herzen der Menschen schlummern." EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso lobte das Ruhrgebiet mit seinen rund 170 verschiedenen Nationalitäten als "Schmelztiegel der Völker und Kulturen". Das Ruhrgebiet gestalte den Wandel mit Mut und Kreativität.

"Heute geht ein Traum in Erfüllung", so NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) bei der rasanten Eröffnungsgala, die einiges von der kulturellen Kraft der Region mit über 200 Museen und einer Fülle von Musik- und Sprechtheatern zeigte. Wenn in der Show alte Bilder des Zechensterbens seit den 50er-Jahren und Demonstrationsplakate mit der Aufschrift "Arbeitsamt, wir kommen" zu sehen waren, schienen trotz der Feierlaune die Probleme des Ruhrgebiets durch: Viele Kommunen sind wegen Überschuldung im Nothaushalt, das Land musste ein 10-Millionen-Sonderprogramm für die Städte auflegen, sonst hätten viele sich an ihrem eigenen Fest gar nicht beteiligen können.

Direkt nach der Abfahrt der Prominenz öffnete Zeche Zollverein die Tore für kostenlose Musik, Kabarett, Kunst und Theater für alle - und wurde schier überrannt. "Der Bahnhof ist schwarz vor Menschen. Essen stürmt Zollverein", schrieb ein Besucher im Internetdienst Twitter. Bis zum abschließenden Feuerwerk am Samstag waren rund 100.000 Menschen auf der Anlage, noch einmal so viele kamen gestern. Die Organisatoren hatten nur mit etwa der Hälfte der Besucher gerechnet.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort