Neunter Pollesch in Stuttgart

Stuttgart (dpa) - Ein Mann in hellem Anzug und rotem Hemd tänzelt über die Bühne. Er posiert. Zieht die Augenbrauen nach oben. Er wirft sich aufs Bett und wedelt mit den Beinen.

Im Hintergrund klingt eine Instrumentalversion des Coldplay-Hits „Viva la Vida“. Mehr geschieht nicht, eine ganze Zeit lang - das Publikum in Stuttgart belohnt die skurrile Komik am Freitag mit Szenenapplaus.

Über weite Strecken von René Polleschs neustem Stück „Die Revolver der Überschüsse“ ist es aber damit beschäftigt, dem in irrsinnigem Tempo vorgetragenen Textfeuerwerk zu folgen. Vier Protagonisten und eine scheinbar außer Kontrolle geratene Drehbühne — von Janina Audick im Stile des russischen Konstruktivismus gestaltet — wirbeln 75 Minuten lang Chronologie, Raum, Personen, Handlung und Themen durcheinander. Ein echter Pollesch eben.

Es geht unter anderem um Liebe - wie immer bei Pollesch, der bereits zum neunten Mal in Stuttgart inszeniert, mit philosophischem Überbau. Michel Foucaults Ideen spielen eine Rolle, der Titel ist Robert Pfaller entliehen und Theodor W. Adorno dient nicht nur als Vorlage fürs Wortspiel („J'adorno“). Die bürgerliche Gesellschaft reguliere alles - nur in der Liebe fordere sie Spontaneität.

Doch wenn die Gesellschaft Sprunghaftigkeit erwartet, sobald das Herz nach Neuem ruft, wird dann nicht die spießige Treue zum Subversiven? Die Liebe tauge derzeit nur noch dazu, heißt es einmal, andere loszuwerden. Völlig unvermittelt sprechen sich Christian Brey, Silja Bächli, Inga Busch und Lilly Marie Tschörtner zwischendurch mit „Liebling“ an. Mal ist dieser „Schatz“, mal jene.

Die vier Schauspieler springen zwischen Ebenen, Rollen und Zeiten hin und her. Ob vorne auf der Bühne oder im hinteren Teil - dann mit der Handkamera eingefangen. Auch das typisch Pollesch. Sie theoretisieren im Stile Adornos über Liebe und Gesellschaft, schmieden Intrigen gegen Energieversorger und schimpfen, die Bühne mache ihre Arbeit unmöglich. Nur hin und wieder muss Souffleuse Katharina Nay den reißenden Textstrom vor dem Versiegen bewahren.

Immer wieder geht es um Räume, in denen die gesellschaftlichen Regeln nicht gelten: „Die Welt teilt sich in zwei Lager. In Orte, die Grundlage unserer normalen Begegnungen sind, und in Heterotopien“. Wo, wenn nicht in jenen, gebe es sozialen Fortschritt?, fragt Silja Bächli, die wie Christian Brey zur Stuttgarter Stammbesetzung des vielfach ausgezeichneten Pollesch gehört.

Der Regisseur verwandelt gleich die gesamte Inszenierung in einen solchen Raum für Fragen. Assoziativ, vieldeutig und herausfordernd. „Immerhin ein neues Wort gelernt“, sagt ein Zuschauer hinterher. Ensemble, Technik und Regisseur ernten zwar minutenlangen Applaus, gelacht aber wird zuvor beim Posieren auf dem Bett oder bei Anspielungen auf den zurückgetretenen Papst. Eben immer dann, wenn die Pointen ein wenig zugänglicher sind.

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