Mit Pack und Plastiksack

Philip Tiedemann inszeniert im Düsseldorfer Großen Haus „Der gute Mensch von Sezuan“ mit Liebe zum skurrilen Detail.

Düsseldorf. Was ist blaurot kariert und aus Plastik? Die Armut. In Form überdimensionaler, extra reißfester Taschen begegnet sie uns dort, wo Obdachlose ihre Habe horten, wo fliegende Händler auf ein Geschäft hoffen und - im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Regisseur Philip Tiedemann hat dieses Muster der Benachteiligten für seine Sicht auf Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" übernommen und mit viel Liebe zum skurrilen Detail in Szene gesetzt. Zweieinhalb Stunden bleibt seine Inszenierung dicht an der Textvorlage und bietet den Zuschauern fast durchgängig gut gemachte Theaterunterhaltung.

Die Bühne hat Etienne Pluss in einen Wohnblock verwandelt: Auf verschiebbare Stoffbahnen sind im bekannten Blau-Rot-Karo Fensterfronten gemalt. Die Darsteller rollen einen kleinen Tabakladen der ehemaligen Prostituierten Shen Te zwischen die Mauern.

Ein Blick hinter die Fassade: eine Bretterbude und ein Ort der Hoffnung. Denn mit dem Geld, das drei Götter dem Mädchen - dem einzigen guten Menschen, den sie finden konnten - gegeben haben, will es in eine neue Zukunft starten.

Diese Rechnung hat sie aber ohne das blau-rot-kariert-gewandete Pack (Kostüme: Stephan von Wedel) gemacht, das sich "Tsching, Tschang, Tschung" bei ihr einnistet. Es führt der guten Shen Te vor, wie man schmarotzend über die Runden kommt, den Schreiner und die Hausbesitzerin um ihr Geld prellt, in dem man einen erfundenen Vetter vorschiebt.

Bloß kein Stress - Prost. Schrille Typen laufen hier umher: Ein Opa mit Rauschebart und Zigarre schiebt seinen Roller eine Rampe in den Zuschauerraum hinauf, um mit sichtlichem Vergnügen hinunter zu rasen.

Immer deutlicher gezeichnet vom Leben auf Erden erscheinen die Götter von Auftritt zu Auftritt. Anfangs makellos in himmlisch weißen Anzügen, verliert der eine ein Bein, der andere gewinnt ein blaues Auge im Versuch, helfend zur Seite zu stehen.

Was ist ein guter Mensch? Auf diese Frage findet Brechts Parabel eine traurige Antwort: Ihn gibt es in Sezuan so wenig wie überall anders auf der Welt. Das führt er an Shen Te vor. Sie wird zerrissen von Wünschen der Bittsteller. Nur in der Verkleidung ihres Vetter Shui Ta kann sie durchgreifen, ihren Besitz sichern und eine Zigarrenfabrik aufbauen, in denen sie die Armen schuften lässt.

Xenia Snagowski spielt diese Doppelrolle leidenschaftlich und mit mädchenhaftem Charme. Es ist ihr erster Auftritt als Düsseldorfer Ensemblemitglied. Sie schreit die Ungerechtigkeiten ins Publikum, sinkt vom Ideal der Liebe beseelt an die Schulter ihres nichtsnutzigen Bräutigams (Michele Cuciuffo).

Wie ein stiller Geist begleitet sie Wang der Wasserverkäufer. Michael Abendroth gibt dieser Figur mit maßvoller Mimik so viel Autorität, dass die Brecht’sche Moral erträglich bleibt. Und selbst der unvermeidliche Epilog-Satz "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen" gerät so nicht in Gefahr, zur Floskel zu erstarren.

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