Jetzt auch in Hamburg: Tschechows „Kirschgarten“

Hamburg (dpa) - Wie Sterne leuchten Lampen am dunklen Bühnenhimmel. Von der Heimorgel erklingen nostalgische Schlager, zu denen gelegentlich gefühlvoll getanzt wird.

Ansonsten reden sie nur, bleiben dabei wie festgenagelt auf ihren Stühlen: In einer Reihe an der Rampe, frontal zum Publikum, sitzen in altmodischer Kleidung neun Personen aus Anton Tschechows „Der Kirschgarten“, darunter die verschuldete Gutsherrin Ranjewskaja (Barbara Nüsse).

Sporadisch sagen sie Sätze, aber nicht, um ihre drückenden wirtschaftlichen Probleme zu lösen - eher wie zur Selbstvergewisserung. In Form und Inhalt reduziert hat Luk Perceval am Hamburger Thalia Theater die Tragikomödie von 1904 in 100 Minuten inszeniert. Am Samstagabend gab es dafür langen Premierenbeifall.

Das Stück über Menschen, die dem Kapitalismus nicht gewachsen sind und in Passivität scheitern, hat Hochkonjunktur. In Leipzig, München und Köln etwa, in Berlin mit Nina Hoss am Deutschen Theater, ist das letzte Werk des russischen realistischen Autors (1860-1904) zu erleben. Das Thema scheint den Zeitgeist zu treffen, doch die Sichtweisen der Regisseure geraten höchst unterschiedlich: Gestaltet Stephan Kimmig am Deutschen Theater den Zerfall einer Gesellschaft in teilweise grobschlächtigem Klamauk, erkennt der belgische Buddhist Perceval (54), seit 2009 Leitender Regisseur am Thalia, im schlichten Untergehen auch Poesie und eine gewisse Schönheit der Vergänglichkeit (Bühne: Kathrin Brack, Kostüme: Anja Sohre).

Allerdings wirken diese Aspekte etwas aufgesetzt. Was bleibt, ist ein betont untheatralischer, etwas zäher Abend, an dem ein erstklassiges Ensemble eine Mentalität zelebriert, die von gestern ist und daran auch nichts ändern kann und will. Die Menschen, die sich so ohne Plan und Ziel verhalten, zeigt Perceval in ihrer eigenen, wenn auch verschrobenen Würde. Der nicht sichtbare Kirschgarten, der versteigert werden muss und von dem sich die alternde, aus dem Ausland zurückgekehrte Ranjewskaja nicht trennen mag, wird zum Symbol eines natürlichen, gelassenen Lebens - eines Lebens, das die ökonomischen Strukturen der Gesellschaft längst nicht mehr zulassen.

Bei Perceval flüchtet die Ranjewskaja in Demenz. Gekleidet in abgetaktelten Pariser Chic samt Kroko-Handtasche mit leerem Portemonnaie, wiederholt sie mit brüchiger Stimme gebetsmühlenartig immer dieselben Sätze und Träume. Mit anderen kann sie keine Gedanken mehr austauschen. „Er ist der Stein um meinen Hals, der mich in den Abgrund zieht. Aber ich liebe ihn“, sagt sie gern über den wirtschaftlich nutzlosen Garten. Hochmütig verweigert sie den Rettungsvorschlag des neureichen Bauernsohnes Lopachin (Tilo Werner). Führt der elegante Diener Firs (Alexander Simon) sie zum Tanz, hat Nüsse den steifen Körper und den staksigen Gang einer Greisin - einer Frau ohne Zukunft.

Auch der Familie und den Freunden ergeht es nicht sehr viel besser. Mal pfeift man ein Liedchen, mal wippt man mit den Stühlen, bis Ranjewskajas Bruder Leonid (Wolf-Dietrich Sprenger) umfällt. Am Ende, nach der Versteigerung, bleibt nur die Liebe. „Ein neues Leben fängt an, Maman“ sagt Ranjewskajas Tochter Anja (Cathérine Seifert) aus Mitleid ihr zum Trost.

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