Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ in der St.-Pauli-Kirche

Hamburg (dpa) - „Bitte helfen Sie uns, Gott, bitte helfen Sie uns, unser Fuß hat Ihr Ufer betreten, doch wie geht es jetzt weiter? Fast hätte uns die See vernichtet, jetzt sind wir in dieser Kirche, doch wo werden wir übermorgen sein und danach?

“, verzweifelt liest die Schauspielerin Patrycia Ziolkowska vor dem Altar die Textpassagen von Elfriede Jelinek.

Es ist still in der Hamburger St.-Pauli-Kirche, obwohl sie bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Die Zuschauer sitzen auf Stühlen, auf dem Steinfußboden, die meisten stehen. Plötzlich rufen die afrikanischen Flüchtlinge, die verteilt zwischen den Zuschauern stehen, in ihrer Sprache: „Wo werden wir übermorgen sein und danach? Wo? Wo? Wo?“

Als dann noch Handy-Aufnahmen von der lebensgefährlichen Überfahrt von Libyen zur italienischen Insel Lampedusa auf der Videoleinwand erscheinen und ein Flüchtling von seinen Erlebnissen berichtet, können die Menschen in der Kirche vielleicht ein wenig nachvollziehen, wie sich die Flüchtlinge an Bord dieses kleinen Holzbootes gefühlt haben müssen: Dicht gedrängt sitzen sie beieinander, die Jacken zum Schutz vor der Sonne ins Gesicht gezogen, auch Kinder sind darunter. „Aber was haben wir hier getan, dass Sie uns in Angst halten, Angst überall, Angst“, ruft der Emporen-Chor. „Angst vor den Meinen, die ich verließ, dass ich wieder zurück muss, vor Ihnen aber noch mehr Angst, dass ich bleiben muss, dass ich nicht bleiben darf“, antwortet Victoria Trauttmansdorff.

Zwölf Schauspieler des Hamburger Thalia-Theaters haben am Samstagabend gemeinsam mit afrikanischen Flüchtlingen Elfriede Jelineks jüngsten Text „Die Schutzbefohlenen“ in der St.-Pauli-Kirche als bewegende Urlesung präsentiert.

Insgesamt 80 Afrikaner, die auf der Flucht vor dem libyschen Bürgerkrieg in Deutschland gestrandet sind, leben seit Juni in der Kirche. Den Text „Die Schutzbefohlenen“ hatte die österreichische Literaturnobelpreisträgerin, die mit einer Videobotschaft zugeschaltet wurde, anlässlich ähnlicher Vorgänge in der Wiener Votivkirche geschrieben. „Wir sind in einem Moment der Ohnmacht. Aber zusammen stehen wir auf“, sagte Pastor Sieghard Wilm nach der rund einstündigen Lesung, die mit viel Beifall bedacht wurde. „Wir müssen in der Kirche auch manchmal laut sein.“

Das Schicksal der Männer, die vorwiegend aus Westafrika stammen, ist seit Monaten ungeklärt. Sie waren während des Bürgerkriegs in Libyen auf die italienische Insel Lampedusa geflüchtet. Von dort schickten italienische Behörden sie mit Touristen-Visa für den Schengenraum nach Nord- und Mitteleuropa. 300 von ihnen gelangten so nach Hamburg. Vor zehn Tagen hatte der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), die Flüchtlinge besucht und angedeutet, dass es eine „humanitäre Lösung“ geben könnte. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) betonte jedoch erneut, dass es keine Sonderregeln für die afrikanischen Flüchtlinge geben werde.

Unterdessen hat die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland „eine gerechte und humanitäre Lösung für die Flüchtlingsfrage in Europa“ gefordert. Im Blick auf die Lampedusa-Gruppe in Hamburg erwarte die Kirche, „dass die politisch Handelnden eine Lösung herbeiführen, die unter Ausnutzung aller rechtlichen Möglichkeiten Lebenschancen für diese Menschen in Deutschland eröffnet“.

Elfriede Jelinek, deren Foto am Ende der Vorführung eingeblendet wurde, glaubt nicht an ein glückliches Ende der Odyssee: „Dass uns Recht geschieht, darum beten wir, das erfülle mein Gebet um freies Geleit, um ein Los, das gewinnt, um ein besseres Los, aber es wird nicht geschehen. Es wird nicht geschehen.“

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