Heiner Goebbels: Nur keine Angst vor Experimenten

Gelsenkirchen (dpa) - Bei Heiner Goebbels darf es auf der Bühne brennen. Er inszeniert Texte des praktisch vergessenen Natur- und Heimatdichters Adalbert Stifter ganz ohne Schauspieler oder bittet seine Darsteller, Blasinstrumente zu spielen - vor allem die, die es nicht können.

Der 59-jährige Frankfurter ist einer der experimentierfreudigsten Komponisten und Regisseure der Szene. Seit vielen Jahren agiert er an der Grenze zwischen Oper, Theater und Performance. Das brachte ihm zahlreiche Preise ein. Goebbels war mit einem Musiktheater-Sketch bei der „documenta X“ und entwarf Klanginstallationen für das Centre Pompidou. Derzeit arbeitet er an seinem Programm für die Ruhrtriennale 2012 bis 2014, die im Sommer in der Bochumer Jahrhunderthalle beginnt.

Seine Eröffnungspremiere will er selbst inszenieren: Die Oper „Europeras 1 & 2“ des Altmeisters der atonalen Musik, John Cage. Zehn Sänger, je fünf Frauen und Männer, aus zehn europäischen Ländern singen dabei - teils gleichzeitig - Arien aus dem traditionellen Repertoire. Wie lange die Arien dauern dürfen, bestimmt ein externer Zeitgeber, die Klänge überlagern sich. „Jeder Zuhörer hört und sieht eine andere Oper“, schwärmt Goebbels. „Das müssen Festivals leisten: radikal künstlerisch konzipierte Werke, die man woanders nicht sieht.“

Ein Wagnis gleich zu Beginn. Die Ruhrtriennale ist schließlich nicht irgendein Festival, sondern ein Vorzeigeprojekt des Landes, mit dem das weiter unter Strukturproblemen leidende Ruhrgebiet neues Profil gewinnen soll. Mit dem Jahresetat - deutlich über zehn Millionen Euro - könnte man eine Reihenhaussiedlung bauen, während die nur ein paar Autobahnabfahrten entfernten Theater in Bochum, Essen, Dortmund und Oberhausen das Spitzenfestival aufmerksam bis eifersüchtig beobachten.

Programmplanung aus dem Elfenbeinturm ist da nicht ratsam. „Es wird ein Programm, das niemanden vergrault und auch Jüngere anspricht“, sagt Goebbels voraus. Eine zweite Oper plant er noch, die thematisch „sehr weit weg“ sein wird von Cage. „Und experimentell - vor dem Begriff muss man sich nicht fürchten“, sagt er. „Wir machen das nicht so, als hätten wir die Weisheit mit Löffeln gefressen.“

Es soll „Jugendprojekte auf Augenhöhe“ geben und eine Einladung an „viele hundert Leute aus der Region“, bei den Inszenierungen internationaler Künstler mitzuwirken. Goebbels ist wie sein bedächtiger und philosophisch auftretender Vorgänger Willy Decker begeistert von den stillgelegten Industriehallen des Ruhrgebiets - etwa der riesigen Jahrhunderthalle oder dem historistischen Maschinenhaus der Zeche Zweckel in Gladbeck - und will sie nicht nur bespielen, sondern für die Inszenierungen wirklich nutzen.

Den Tanz liebt er: „Die kreativste Kunstform seit Jahrzehnten, nicht nur in Deutschland, weil sie am wenigsten institutionalisiert ist.“ Und der Bildenden Kunst fühlt er sich nahe. Deswegen wird es in jedem seiner drei Jahre an der Ruhr zur Eröffnung eine Ausstellung mit namhaften bildenden Künstlern geben. Den Anfang machen unter dem Motto „Twelve rooms“ zwölf menschliche „living sculptures“ im Essener Museum Folkwang.

Zu Hause in Frankfurt spielt der gelernte Pianist Goebbels fast jeden Abend zur Entspannung ein bisschen - meistens Bach und sehr gern aus dessen „Wohltemperierten Klavier“. Noch kurz vor der Ernennung zum neuen Ruhrtriennale-Chef hat er sich einen neuen Flügel gekauft, erzählt Goebbels. Nun hat er viel Arbeit und lebt unter der Woche im Essener Süden. „Und der Flügel verstimmt langsam ungespielt.“

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