Ein Aussteiger von Adel

Er schrieb monumentale Romane von Weltklasse, dann wollte er die Bauern und die Welt retten: Vor 100 Jahren starb Leo Tolstoi.

Moskau. Die Inszenierung seines Ablebens ist dem Dichterfürsten gründlich misslungen, könnte aber zugleich aus einem seiner Roman stammen. Als der 82-jährige Leo Tolstoi am 10. November 1910 merkte, dass die Lebensgeister ihn bald verlassen würden, machte er sich zu Pferd auf. Wenigsten am Ende wollte er dem Lebensbild entsprechen, das er als erstrebenswert entworfen hatte: Ohne Luxus, ohne Anspruch, ohne Lärm, stattdessen mit Gottvertrauen in der Natur.

Seiner Frau Sofja schrieb er: "Ich tue das, was Alte in meinem Alter tun sollten: Sie gehen aus dem Leben, um ihre letzten Tage in Einsamkeit und Ruhe zu verbringen." Er schaffte es wegen einer Lungenentzündung aber nur bis zum Häuschen des Bahnwärters an der Station Astapowo.

Die Familie reiste ihm flugs hinterher, seine Frau Sofja kam gar im Sonderzug, auch Reporter und Schaulustige folgten dem prominenten Dichter, der nicht zum spätberufenen Eremiten werden durfte, bis zu seiner Sterbeklause. Dort ist er am 20. November nach einem außerordentlichen Lebensweg gestorben. Beim Sarg hat er sich immerhin durchgesetzt: Er wurde in einem schlichten Holzmodell bestattet.

Landläufig bekannt ist Leo Tolstoi für seine monumentalen Romane, Bestseller der Weltliteratur. Auf mehr als 2000 Seiten "Krieg und Frieden" blättert er ein großes Panorama mehrerer Adelsfamilien in den Jahren 1805 bis 1812 auf, als Napoleon Moskau erobern wollte. In feinen Verästelungen erzählt er die Liebes- und Familiendramen. Er schreibt im Ton sachlich, legt seine Figuren aber so detail- und facettenreich an, dass man keine Schublade für sie findet: Dafür sind sie zu lebendig.

Auch die 1700 Seiten von "Anna Karenina" tragen den Leser mit langem Atem in den Kosmos des Fürst Oblonski hinein, dessen Schwester Anna brav mit dem Staatsbeamten Karenin verheiratet ist. Dann trifft sie den Grafen Wronskij, entbrennt zu ihm und zur Liebe generell, was - zu dieser Zeit sowieso - kein gutes Ende nehmen konnte.

Leo Tolstoi ist 49 Jahre alt, als er "Anna Karenina" beendet, und auf dem Gipfel seines Ruhms. Da wendet er sich von der Belletristik ab und wird hauptberuflich zum Weltverbesserer, eine Art gutsituierter Aussteiger. Schon zuvor hatte er für die Kinder von Leibeigenen Dorfschulen eingerichtet,

Er verfolgte einen christlichen Ursozialismus, in dem er das einfache Landleben und die Kraft der Natur feierte. Er kämpfte mit Verve gegen technische Neuerungen wie die Eisenbahn. Die Menschen sollten sich besser in selbst gefertigten Stiefeln aufmachen. Er aß vegetarisch, verzichtete auf Rauchen, Alkohol und die Jagd ("grausame Vergnügungen").

Er wetterte ausdauernd gegen die Landflucht, die Bauern sollten keine "Scheinarbeit" in der Stadt annehmen und Dinge produzieren, die niemand wirklich brauche. Als er dann auch noch die Bergpredigt wörtlich nahm und fand, der real existierende Staat mit seinen Institutionen lasse sich nicht damit vereinbaren, wurde der einst gefeierte Literat zum Staatsfeind.

Sein Ururenkel Wladimir Tolstoi (48) ist Journalist und Direktor des Tolstoi-Museums auf dem Familiengut Jasnaja Poljana 200 Kilometer südlich von Moskau. Sein Vorfahr sei absolut modern, sagt er: "Die Zerstörung des Menschen und die Zerstörung seiner Umwelt, in der er sich befindet - das ist es, was Tolstoi umgetrieben hat. Zur heutigen Gesellschaft in Russland mit ihrer Falschheit und Doppelmoral hätte er sich vermutlich äußerst kritisch verhalten. Auch im modernen Amerika wäre er eine Art Staatsfeind, denn politische Korrektheit war ihm völlig fremd."

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