Anne Lepper über Lebenslügen und Realitätsverlust

Bielefeld (dpa) - Ihre Ballettkarriere hat Käthe Hermann nach der Geburt ihrer beiden Kinder an den Nagel gehängt. Jetzt ist sie um die 80 und träumt davon, ins Rampenlicht zurückzukehren, sich tanzend Ruhm und Reichtum zu erwerben.

Und auch bei ihren Kindern Irmi und Martin klaffen Sehnsucht und Wirklichkeit weit auseinander.

Um Lebenslügen und Realitätsverlust dreht sich „Käthe Hermann“, das zweite Stück der Autorin Anne Lepper, die zu den großen Hoffnungen des Gegenwartstheaters gehört. In der Inszenierung von Daniela Kranz wurde es am Donnerstag in Bielefeld uraufgeführt - und von den Zuschauern in der Studiobühne TAM3 des Theaters am Alten Markt mit wohlwollendem Applaus bedacht.

Vor dem Haus warten die Abrissbagger. Wegen des Braunkohleabbaus soll die dreiköpfige Familie umgesiedelt werden, doch Käthe Hermann (Therese Berger) will die Wohnung nicht verlassen und hat sie stattdessen renoviert. Der drohenden Veränderung versucht sie sich mit festen Ritualen zu widersetzen: Der gelähmte Sohn Martin (John Wesley Zielmann) muss die Musik anstellen, Tochter Irmi (Hannah von Peinen) ist für das Licht zuständig, während Käthe Hermann ihre Übungen an der Ballettstange macht. Dennoch kann die alte Frau nicht verhindern, dass ihr mühsam zusammengehaltenes Weltbild zerbricht. Denn Irmi entzieht sich der zwanghaften Gemeinschaft und schluckt tödliches Gift.

Die in Wuppertal lebende Anne Lepper, deren Debütstück „Sonst alles ist drinnen“ mit dem Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik ausgezeichnet wurde, überträgt in ihrem neuen Werk die großen Lügen unserer Gesellschaft auf den Mikrokosmos einer Familie. Als überzeugter Nazi war Käthe Hermanns verstorbener Mann Hans offensichtlich für die Ermordung von Juden verantwortlich, doch seiner Witwe ist es wichtiger zu betonen, dass sie einem jüdischen Mädchen einmal ein Stück Brot gegeben hat.

Mit ihrem 80-minütigen Stück macht es die 33-jährige Autorin dem Zuschauer nicht leicht. Anne Lepper - sie gehört zu den erfolgreichsten Newcomern der deutschen Theaterszene - legt eine Vielzahl von Fährten aus, macht Andeutungen, wirft Fragen auf, die unbeantwortet bleiben.

So wartet Tochter Irmi auf den Besuch „des Jungen“, ihres Sohns, den sie nach der Geburt weggegeben hat und der als erfolgreicher Mann, als Anwalt, Arzt oder Astronaut zu ihr zurückkehren soll. Aber hat sie den Säugling nicht vielmehr, wie Bruder Martin insistiert, ausgesetzt und erfrieren lassen? Oder ist das Kind, wie Mutter Käthe behauptet, mit elf Jahren gestorben, nachdem es beim Fußballspiel am Kopf getroffen wurde? Es drängt sich auf, dass „der Junge“ nur in der Fantasie der drei Protagonisten existiert - wie so vieles andere auch.

An diesem Sonntag steht auf der Cumberland'schen Bühne des Schauspiels Hannover die nächste Uraufführung eines Lepper-Stücks an: „Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier“ spielt in einem Bergsanatorium für übergewichtige Kinder.

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