Lenz-Roman „Der Überläufer“ posthum erschienen

Kiel (dpa) - Wegen des großen Interesses an dem im Nachlass entdeckten Roman „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz (1926-2014) hat der Verlag Hoffmann und Campe den Verkaufsstart vorgezogen.

Lenz-Roman „Der Überläufer“ posthum erschienen
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Die Startauflage von 50 000 Exemplaren werde seit Wochenbeginn an den Buchhandel ausgeliefert, sagte Verlagssprecherin Julia Strack in Hamburg. Ursprünglich sollte das Buch am 10. März erscheinen. Verleger Daniel Kampa betonte: „Das Medieninteresse ist enorm und auch die Vorbestellungen des Buchhandels übertreffen unsere Erwartungen.“ Alle Voraussetzungen für einen großen Erfolg seien also gegeben. „Der Überläufer“ sei ein „literarisches Ereignis“.

Lenz hatte den Roman über den Irrsinn des Krieges und einen Wehrmachtssoldaten, der zur Roten Armee desertiert, bereits 1951 fertiggestellt. Damals wollte Hoffmann und Campe den Roman aus Sorge vor der politischen Stimmung im Kalten Krieg nicht drucken. In einem Brief des Verlags an Lenz aus dem Jahre 1952 heißt es: „Ich halte es für äußerst gefährlich, den Roman im bisherigen Zustande zu publizieren. Er würde, was seine "Gesinnung" betrifft, scharf unter die Lupe genommen werden.“

Lenz behielt dann das Manuskript bis zu seinem Tod 2014 unter Verschluss. Der Roman sei 2015 in den persönlichen Unterlagen entdeckt worden, die Lenz ein halbes Jahr vor seinem Tod dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach versprochen hatte, berichtet Günter Berg, Chef der Siegfried Lenz Stiftung in Hamburg.

Die Romanhandlung: Im letzten Kriegssommer 1944 kommt der Soldat Walter Proska aus Lyck in Masuren - Lenz' realer Geburtsort! - vom Heimaturlaub wieder an die Ostfront. Der Zug wird gesprengt, Proska überlebt. Er kommt zu einer Einheit in den Sümpfen von Rokitno, die vom Süden Weißrusslands bis in den Nordwesten der Ukraine reichen. Die von der Front abgeschnittene Einheit überwacht eine Bahnstrecke, ein verlorener Posten. Immer wieder Partisanenüberfälle. Todesängste. Soldaten verlieren den Verstand, töten oder werden getötet. Schließlich desertieren Proska und ein Kamerad. Dessen Argument: „Wer kontrolliert denn die Werte der Welt? Du, du allein.“

Lenz selber hatte kurz vor Kriegsende im April 1945 in den Wäldern Dänemarks sich als Soldat davongemacht. Anlass war die Hinrichtung eines Kameraden gewesen, der sich aufgelehnt hatte. „Sie brauchten einen Toten, um uns an ihre Macht zu erinnern“, schrieb Lenz in seinem autobiographischen Aufsatz „Ich zum Beispiel“ über den Jahrgang 1926.

Auf die Frage, ob die Veröffentlichung des Romans eine späte, posthume Wiedergutmachung für eine frühere Fehlentscheidung des Verlags sei, sagt Kampa: „Durchaus, wobei der Verlag Siegfried Lenz für das nicht erschienene Manuskript die damals stattliche Summe von 950 Mark zahlte, die es dem jungen Autor ermöglichte, sich einem neuen Roman zu widmen. Im Übrigen war geplant, dass aus dem Überläufer-Stoff eine Novelle entstehen sollte. Dass dieses Projekt in Vergessenheit geriet, lag sicherlich auch daran, dass ein Jahr später der damalige Verlagsleiter Rudolf Soelter und zwei Jahre später auch der betreuende Lektor Otto Görner starben. Danach hat auch Siegfried Lenz den "Überläufer" gegenüber dem Verlag nie wieder erwähnt.“ Umso mehr sei die Entdeckung dieses grandiosen Romans ein wunderbares Geschenk für den Verlag und die Leser.

Die Veröffentlichung sei absolut im Sinne von Lenz, sagt Kampa. Es handle sich ja nicht um ein Fragment oder ein aufgegebenes Werk, sondern um ein mehrmals überarbeitetes, abgeschlossenes Manuskript, das Lenz unbedingt veröffentlichen wollte, wie die Korrespondenz im Nachlass und im Verlagsarchiv unmissverständlich zeige.

„Der Überläufer“ sei ein Frühwerk, das spätere Meisterwerke wie den humorvollen Erzählband „So zärtlich war Suleyken“ und den Roman „Deutschstunde“ thematisch vorwegnehme und die großen Lenz-Themen behandle: „Den Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen in Zeiten des Krieges und die Frage, ob man handeln kann, ohne schuldig zu sein. Aber "Der Überläufer" ist auch ein ergreifender Liebesroman und eine elegische Hommage auf Lenz’ masurische Heimat“, sagt Kampa.

Was ist aus dem Nachlass noch zu erwarten? „Einen weiteren unveröffentlichten Roman von Siegfried Lenz gibt es leider nicht, aber es ist durchaus möglich, dass unveröffentlichte Erzählungen auftauchen“, sagt Kampa. „Ein frühes Reisejournal und frühe Gedichte wurden bereits gefunden, wann sie veröffentlicht werden, ist aber noch offen.“

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