Günter Grass auf Wahlkampftour für Willy Brandt

Berlin (dpa) - Für Günter Grass ist der heutige Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) „einer der ungewollten Gründer der Grünen“.

Schmidt habe seinerzeit die Umweltthemen nicht erkannt, so dass sich auch zahlreiche Bürgerinitiativen jenseits der Parteien entwickelten, meint der Literaturnobelpreisträger in einem Gespräch rückblickend. Unter anderem dieses Gespräch ist in dem von Kai Schlüter herausgegebenen Band „Günter Grass auf Tour für Willy Brandt - Die legendäre Wahlkampfreise 1969“ enthalten.

Damals tourte der führerscheinlose Grass zusammen mit Unterstützern von März bis September 1969 vom Norden bis zum Süden der Republik, also auch bis in die damalige bayerische „Diaspora“ der SPD. Er sprach auf 60 Veranstaltungen zu 60 000 Menschen auf oft so gut besuchten Veranstaltungen, dass die angestammten Parteimitglieder der jeweiligen Wahlkreise nur neidisch werden konnten. Grass nahm sogar Eintritt für seine Auftritte und spendete die Einnahmen unter anderem für Bundeswehr-Bibliotheken, die er erbärmlich unterversorgt fand.

Dabei war die offene Wahlunterstützung des umstrittenen Autors der SPD und vor allem dem Befürworter der Großen Koalition, Herbert Wehner, nicht geheuer. So vertrat Grass doch auch unorthodoxe und damals noch keineswegs mehrheitsfähige Meinungen wie die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze - als geborener Danziger. Die Grass-Auftritte wurden nicht nur von Mitgliedern der Jungen Union oder Rechtsextremisten wie Anhängern der damals bedrohlich stark werdenden NPD gestört, sondern auch von den jungen Rebellen und Studenten der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) mit Rudi Dutschke an der Spitze, denen Grass nicht linksradikal genug war.

Es war aber auch die Zeit, als die Partei immer mehr prominente Unterstützer erhielt, die in der Bevölkerung populär waren wie Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Frankenfeld, Horst Tappert oder Inge Meysel. Die Wahlkampftour hatte noch einen besonderen Nebeneffekt für Grass: er lernte „Westdeutschland“ kennen, wie die West-Berliner die damalige Bundesrepublik nannten. Er sei in Gegenden gekommen, die er als Literat wohl nie gesehen hätte, meint er rückblickend in dem Buch. „Ich hätte nie Einladungen zu Lesungen nach Niederbayern bekommen.“

Es war nicht die erste Wahlkampfreise des heute 84-jährigen Autors der „Blechtrommel“, aber die umfangreichste und wohl auch wichtigste mit der von ihm mitinitiierten Sozialdemokratischen Wählerinitiative. „Ohne die Wählerinitiative wäre die Wahl nicht zu gewinnen gewesen, das ist meine Überzeugung“, sagt er heute in dem Buch. 1969 kam die erste sozial-liberale Koalition (mit Brandt und Walter Scheel) auf Bundesebene zustande. Grass hatte schon 1961 gegen den Bau der Berliner Mauer protestiert und auch 1965 für die SPD getrommelt. Damals empörte er sich auch über Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), der öffentlich auf die uneheliche Herkunft des SPD-Gegenkandidaten Brandt anspielte.

In jenem Jahr gab es auch den wohl spektakulärsten Wahlkampfauftritt des Starautors im niedersächsischen Cloppenburg mit massiven Störungen. Die als „Eierschlacht“ bekanntgewordene Veranstaltung ist als Tondokument überliefert und jetzt mit dem Titel „Ich klage an“ auch als CD erschienen. Obwohl die Polizei Grass immer wieder fragte, ob er nicht lieber abbrechen möchte, hielt der literarische Wahlkämpfer durch. Auch weil er, wie er damals sagte, der festen Überzeugung sei, dass auch die Schriftsteller aufgerufen seien, ihre Stimme zu erheben und aus ihrem „Elfenbeinturm“ herabzusteigen; Politik dürfe man nicht allein den Parteien überlassen.

Wenn es Grass auf seinen Wahlkampfreisen aber mal zu bunt wurde, konnte er auch handgreiflich werden. „Dem bin ich an die Jacke gegangen“, erinnerte er sich an einen Zwischenfall, als ein Zuhörer „Willy Brandt an die Wand!“ gerufen hatte. 1965 hatte es sogar einen Brandanschlag auf seine Wohnung im West-Berliner Ortsteil Friedenau gegeben.

Das Buch ist auch und vielleicht vor allem für die nachgewachsenen Generationen eine aufschlussreiche Lektüre über ein spannendes Kapitel bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte, als sich Intellektuelle und Künstler aufgerufen fühlten, an den Auseinandersetzungen der Gesellschaft aktiv teilzunehmen. Die Verbindung von „Geist und Macht“ sei in der Geschichte der Bundesrepublik nie so eng wie in der Ära Brandt gewesen, weder zuvor noch nachher prägten Intellektuelle so nachhaltig den öffentlichen Diskurs wie in dieser Zeit, meint die Politikwissenschaftlerin Daniela Münkler in dem Buch in ihrer resümierenden Schlussbetrachtung.

Kai Schlüter (Hrsg.): Günter Grass auf Tour für Willy Brandt

Die legendäre Wahlkampfreise 1969,

Ch. Links Verlag, Berlin, 240 Seiten, 24,90 Euro,

ISBN 978-3-86153-647-5

CD „Die Cloppenburger Wahlkampfrede 14. September 1965 - Ich klage an“,

80 min., Produktion von Radio Bremen und Ch.Links Verlag, Berlin, 9,90 Euro, ISBN 978-3-86153-660-4

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