Die Schatten der Vergangenheit: John Irvings "Letzte Nacht in Twisted River"

Roman: John Irving erzählt erneut eine berührende Familiengeschichte.

Düsseldorf. Das, was "Letzte Nacht in Twisted River" geschah, verändert das ganze Leben. Das ahnt Danny Baciagalupo sofort. Schicksal und Zufall und die Schatten der Vergangenheit spielen wieder eine große Rolle im neuen Roman von John Irving. Der Amerikaner erzählt einen Familienroman, eher noch eine Vater-Sohn-Geschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Ein Bär kommt darin vor, eine abgetrennte Hand, ein totes Kind, Ringer, Köche, ein Engel und ein Schriftsteller: Irving verbindet die Motive, die man aus früheren Romane kennt, zu einer packenden, berührenden, komischen und teils todtraurigen Geschichte.

Alles beginnt in einem Holzfällercamp 1954 in New Hampshire, wo der zwölfjährige Danny und sein Vater Dominic, genannt "Cookie", der Koch, leben. In dem tosenden Twisted River, der Transportweg für die gefällten Bäume, ist vor Jahren Dannys Mutter ums Leben gekommen. Nun geschieht ein weiterer Unfall: Danny wird Zeuge einer vermeintlichen Bärenattacke auf seinen Vater. Mit der gusseisernen Bratpfanne donnert er dem Pelzträger eins über - und merkt zu spät, dass es sich um Jane, die indianische Geliebte seines Vaters, und nicht um einen Angriff, sondern um das Liebesspiel der beiden handelt. Vater und Sohn beschließen zu flüchten, denn sie fürchten die Rache des verrückten Carl, dem ehemaligen Dorfsheriff, mit dem Jane liiert war.

Aus diesem Ereignis entwickelt Irving in seinem elften Roman eine Flucht, die Dominic und Danny über Boston, Vermont, Iowa bis nach Kanada ins Jahr 2004 führen wird. Carls angedrohte Rache dient dabei nur als Vehikel, die Handlung voranzutreiben. Die Unsicherheit, die Sehnsucht nach Liebe und Glück und die gleichzeitige Unfähigkeit, feste Bindungen einzugehen, treibt die beiden Männer immer voran. Dominic arbeitet als Koch unter falschem Namen in unterschiedlichen Restaurants, Danny wird erfolgreicher Schriftsteller und verarbeitet seine Erlebnisse und Neurosen in seinen Büchern.

Der Entstehungsprozess von Literatur und die Verschränkung von Leben und Werk in Dannys Romanen nehmen dabei großen Raum ein. Natürlich spiegelt sich Irving in diesem Alter Ego, auch wenn Danny sich ebenso wie sein Schöpfer darüber aufregt, wie seine Bücher "nach jedem nur denkbaren autobiographischen Krümel durchstöbert" werden.

Irving schafft in manchmal etwas ausufernden Beschreibungen wieder einen ganzen Kosmos. Das Leben ist ein wilder Fluss, der einen durch immer neue Windungen treibt. Vor allem die Nebenfiguren sind prägnant: allen voran Ketchum, der ruppige Holzfäller, der in den entscheidenden Momenten von Vater und Sohn aber hilfreich zur Stelle steht. Oder die hochemotionale Carmilla, die Danny statt ihres toten Sohnes ins Herz schließt.

Das einzige, was Irving nicht so recht gelingt, ist seine Story zeitgeschichtlich zu verankern. Die Versuche, den Lauf der Zeit, Vietnam-Krieg und Nixon und später Bush und den 11. September kritisch zu verarbeiten und in den Figuren zu spiegeln, wirken halbherzig und deplatziert in einer Geschichte, die gerade durch ihre zeitlose Emotionalität, Schönheit und Relevanz besticht.

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