Der Vater aller Wutbürger

„Empört Euch!“ — das kleine Bändchen des deutsch-französischen Ex-Diplomaten Stéphane Hessel ist ein Bestseller.

Paris. Von einem Buch zu sprechen, wäre wirklich übertrieben. Nur 32 Seiten umfasst das Bändchen, wobei sich sein stofflicher Kern auf die halbe Seitenzahl beschränkt. Und doch stürmte es die französische Bestsellerliste. Das Werk mit dem aufrüttelnden Titel „Empört Euch!“ (französisch: „Indignez-vous!“) ist erst drei Monate auf dem Markt, hat sich aber bereits mehr als 900 000 Mal verkauft: eine Buch-Sensation im XXS-Format.

Für drei Euro bekommt man eine ungeschminkte Gesellschaftsanalyse, aufrüttelnde Kampfschrift und — vor allem — das Vermächtnis einer schillernden Jahrhundert-Persönlichkeit. Stéphane Hessel ist ein 93 Jahre alter Pariser Intellektueller mit deutschen Wurzeln — und einer ebenso faszinierenden wie bewegenden Biografie. Ein großer Europäer, Humanist und Bildungsbürger.

1917 kommt er in Berlin in einer jüdisch-protestantischen Familie zur Welt, die sieben Jahre später von der Spree an die Seine ziehen wird. Sein Vater Franz Hessel ist als Schriftsteller ebenso renommiert wie als Übersetzer.

So überträgt er Klassiker wie Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ins Deutsche. Weltberühmt wird Hessel senior Anfang der 60er Jahre. François Truffaut verfilmt in „Jules & Jim“ die turbulente und poesievolle Dreiecksbeziehung zwischen dem Vater, der Mutter Helen Grund und dem Franzosen Henri-Pierre Roché.

Als Hitlers Wehrmacht im Stechschritt über die Champs-Elysées paradiert und Millionen Franzosen kollaborieren, schließt sich Stéphane Hessel der Résistance an. 1944 verschleppt ihn die Gestapo nach Buchenwald. Das Todesurteil ist schon gesprochen, da rettet ihn der Publizist Eugen Kogon („Der SS-Staat“), indem er ihm die Papiere eines Toten verschafft.

65 Jahre später zieht der „Ex-Combattant“ trotzdem einen klaren Trennstrich zwischen den Verbrechen der Nazis und einer vermeintlichen Kollektivschuld des deutschen Volkes. „Hitler“, sagt Hessel, „hat die guten deutschen Werte verraten und die Deutschen dazu verleitet, Barbarisches zu tun.“

Es sind die aufrechten Prinzipien der Résistance, die fortan sein Weltbild bestimmen. „Heute, mehr denn je, brauchen wir diese Werte“, schreibt Hessel in seinem „Empörungs“-Buch. Er tadelt die Auswüchse des internationalen Kapitalismus und die Wirtschafts-Philosophie eines „Immer-Mehr“, er geißelt Armut, Ausbeutung und den Hass gegen Immigranten, er wirbt für ein gewaltfreies Leben ohne Terrorismus, kurz: für eine bessere, gerechtere Welt. Und fügt hinzu: „Es reicht nicht, sich zu empören: Man muss handeln.“

Klar im Gedankengang und schnörkellos im Stil kommt Hessel schnell auf den Punkt. Eine knappe Viertelstunde braucht es, um seine Botschaft zu verstehen. Viele kaufen „Empört Euch!“ im Zehnerpack, um damit Familie, Freunde und Kollegen zu beglücken, auch wenn die es eigentlich nicht lesen wollen. „Dann kam Tunesien“, sagt Hessel, „die Revolution beflügelt die Menschen hier, weil sich ein empörtes Volk erfolgreich gegen Willkür und Unrecht gewehrt hat.“

„Ich will insbesondere jungen Menschen Mut machen“, sagt der Autor mit ruhiger und fester Stimme. Antworten gebe er jedoch nicht, die müssten sie selber finden.

Dass sich nun etliche französische Intellektuelle und jüdische Organisationen über sein Empörungsbuch empören, nimmt er gelassen zur Kenntnis. Sie stört, dass sich der Sohn eines Juden auf die Seite der Palästinenser schlägt und das israelische Vorgehen im Gazastreifen scharf anprangert. „Ich bin vom Judentum geprägt, habe aber nie eine Religion ausgeübt“, sagt Stéphane Hessel: „Ich bin Freidenker.“

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