Premiere Apokalypse zwischen Plattenbau und Bungalow

Düsseldorf · Simon Solberg setzt Helene Hegemanns neuen Roman in Szene. Jubel im Kleinen Haus.

 Der Zerstörungsprozess ergreift die ganze Gesellschaft.

Der Zerstörungsprozess ergreift die ganze Gesellschaft.

Foto: Thomas Rabsch

Mit 17 machte Helene Hegemann bereits Furore – mit ihrem Debüt-Roman „Axolotl Roadkill“, der sich allerdings in Teilen als Plagiat entpuppte und 2010 einen veritablen Literaturskandal provozierte. Doch die Autorin, die zugab, dass sie von einem Blogger abgeschrieben hatte,  machte weiter und legte 2018 ihr drittes Werk „Bungalow“ vor, der ihr – Betrugsskandal hin oder her – eine Nominierung für den Deutschen Literaturpreis bescherte. Ein düsteres Opus, in dem das 13-jährige Mädchen ‚Charlie’ von ihrer privaten Familien-Apokalypse und Weltenkriegen zwischen bombardierten Betonwüsten, Plattenbauten und einem Bungalow berichtet.

Im Kleinen Haus des Schauspielhauses setzte jetzt Simon Solberg Hegemanns den Roman in Szene – als beklemmendes Psycho-Kammerspiel für sechs Personen mit der mädchenhaften Lea Ruckpaul als Charlie, die sich bis zur Erschöpfung verausgabt. Und – mit einem Wechselbad von Panikattacken und nüchtern realistischer Erinnerung an ihre Eltern und ihre geliebten Nachbarn im Wunschort Bungalow die Zuschauer beinah in eine Endzeitstimmung versetzt. Was Ruckpaul da vollbringt, gelingt nur wenigen Mimen.

Doch die zügig ablaufenden, pausenlosen 100 Katastrophen-Minuten lockert Solberg geschickt auf: mit grotesken Songs und wohl dosierten Einsprengseln aus Grusel-Comedy und Kabarett, die das Leiden der Protagonistin und ihre hoffnungslose Orientierungslosigkeit ertragbar machen. Nach Ruckpauls/Charlies letzter Szene, in der sie empfindungslos vor sich hinstarrt und vom „Tag, an dem der Krieg ausbrach…“ erzählt, herrscht absolute Stille. Eine ungewöhnlich lange Zeit. Nur langsam löst sich die Anspannung – um nicht zu sagen Schockstarre – von Zuschauern und Darstellern in befreienden Applaus und Jubel auf.

Es donnert. Eine Detonation. Eine Bombe schlägt ein. „Alle haben Scheißangst!“ schreit Charlie, nervös und hysterisch aufgekratzt. In Auflösung ist die schwarz-weiße Welt dieses Mädchens von Anfang an. Mit wenigen Strichen skizziert werden die Silhouetten der Wohnsilos (Bühne: Solberg und María Reyes Pérez).

In einer dieser Etagen haust Charlie mit ihrer versoffenen, manisch depressiven Mutter (Judith Rosmair), die ihre Lebensangst betäubt, indem sie permanent schwarz-weiße Geisterbilder malt. Zwischendurch flackern wahre Mutter-Gefühle auf, doch Szene für Szene nähert sie sich dem unvermeidlichen Suizid, bis sie wie ein finsteres Zerrbild der Mater Dolorosa unter einem Kreuz steht. Und schließlich Ruhe findet.

Der heftige Zweikampf zwischen Mutter und Tochter und derbe Jugendsprache dominieren den Abend. Der Vater (Florian Lange) ist ein schwacher Typ, den Charlie überwiegend verachtet. Er fristet ein Schattendasein auf der Nebenbühne und kann seine Tochter, das ‚angry young girl’, nicht erreichen, noch weniger domestizieren. Versucht es erst gar nicht.

In Filmprojektionen tauchen Georg (Sebastian Tessenow) und Maria (Minna Wündrich) auf – die Bewohner des Bungalows (neben der Mietskaserne), in die sich Charlie verliebt. Weil sie, wie sie meint, in einer anderen, heileren Welt leben. Doch entpuppen sich die zwei als schrille, durchgeknallte Psychos. Zu diesem hochgradig neurotischen Duo (Tessenow und Wündrich drehen hier so richtig auf) flieht Charlie, nachdem ihre Mutter wie ein Bullterrier in ihren Unterarm gebissen hat. Klar, dass ihre Wunschträume nach einer Liebesnacht zu Dritt wie eine Seifenblase zerplatzen. Und auch die beiden keine Rettung sind für sie – für die angstgepeinigte, gewalttätige und aggressiv ausbrechende Charlie, die vor lauter Trash und Seelenmüll keinen Ausweg sieht.

Bis zum Schlussbild sucht das Mädchen nach Erlösung aus Sinnlosigkeit und gerät in Panik vor einem Zerstörungsprozess, der nicht nur sie selber, sondern die ganze Gesellschaft erfasst. Vor dem nahenden Untergang ist selbst ihr Jugendfreund Iskender (Jonas Friedrich Leonhardi) kein Rettungsanker, der – in allen Fasern ebenfalls ein neurotisches Wesen – sich kurzerhand zu einer Atlantik-Überquerung im Katamaran entschließt.

Fazit: Alpträume einer Rebellin, die Autorin und Regisseur verfremden und bis ins Surreale und satirisch Groteske steigern. Sie entwerfen ein Untergangsszenario, dem keiner gewachsen ist. Weder Darsteller noch Zuschauer. Junge und ältere Besucher dieser – den Nerv der Zeit treffenden – Inszenierung müssen Mut haben und gefasst sein, eine bittere Pille zu schlucken.

26., Sept., 4., 11., 28 Okt. Tickets: Tel 36 99 11 oder im Internet:

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