Freies Netzwerk Kultur Die Pandemie treibt Prozesse voran

Künstler, wenn sie nicht den Kopf in den Sand gesteckt haben, profilieren sich neu, hinterfragen sich und ihr Schaffen, drehen Filmprojekte mit Kolleginnen, ohne sich einmal im wirklichen Leben zu begegnen, die Technik macht`s möglich.

 Torsten Krug vom Freien Netzwerk Kultur.

Torsten Krug vom Freien Netzwerk Kultur.

Foto: Fischer, A. (f22)/Fischer, Andreas (f22)

Eine Sängerin erzählte mir neulich von einer Probe, bei der ein Tenor ziemlich indisponiert gewesen sei. Er habe dann eingestanden, dass er in Zeiten von Corona eben kaum gesungen, geschweige denn geübt habe. Kürzlich las ich in dieser Zeitung über ein gestreamtes Konzert, der Bariton habe keine leichte Höhe gehabt, da musste ich wieder daran denken, auch wenn es vielleicht nichts damit zu tun hatte. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Ich habe es Monate lang kaum geschafft, mich zum Üben oder Einstudieren neuen Repertoires zu motivieren. Auch als Künstler arbeiten wir auf ein Ziel hin, immer wieder. Wenn dieses Ziel wegfällt, fehlt ein entscheidendes Moment. Sängerinnen proben eine Oper, die dann auf Eis gelegt wird und Wochen später plötzlich in einem Feldversuch vor getestetem Publikum aufgeführt werden soll. Also schnell alles wieder hoch holen!

Finanzielle Sicherheit finden darstellende Künstler auch in Pandemie-Zeiten eher in einer Festanstellung. Künstlerische Energie, habe ich den Eindruck, kann sich aktuell leichter in der Freien Szene entfalten. Diese kann – wie der Name schon sagt – freier und flexibler reagieren. Stipendien, ein Fächer an Förderprogrammen ermöglichen Arbeiten, die in der Form zuvor kaum vorstellbar gewesen wären. Künstler, wenn sie nicht den Kopf in den Sand gesteckt haben, profilieren sich neu, hinterfragen sich und ihr Schaffen, drehen Filmprojekte mit Kolleginnen, ohne sich einmal im wirklichen Leben zu begegnen, die Technik macht`s möglich.

Nun kommt er vermutlich, der eigentliche Lockdown, der uns hoffentlich nur kurz an die Kandare nehmen soll, und vielerorts lese ich Hysterisches vom starken Staat. Das scheint mir abwegig. Hätten wir früher die Solidarität und das Vertrauen hoch gehalten, wäre eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes nicht notwendig. Doch das gehört nur am Rande hierher. Überhaupt handelt doch diese Kolumne von der Freien Kulturszene und nicht von der Gesellschaft, Politik, Philosophie et cetera pp! Doch wenn die Kunst ein Spiegel der Menschen ist, dann funktioniert dieser selbst in Pandemiezeiten, in denen er von einem Schleier verhängt ist.

Kein Zufall, dass in der Kultur wie in der Gesellschaft viele lange als unveränderlich geglaubten Zustände aufbrechen und aufs Tapet kommen: Machtmissbrauch am Theater, überkommene hierarchische Strukturen, der Wandel der Kommunikation mit dem Publikum wie untereinander, das Hinterfragen des klassischen Kanons und dergleichen mehr. Wie eine Zentrifuge wirbelt die Pandemie alles durcheinander. Mancher mag das beängstigend finden oder alten Zeiten hinterher trauern. Bei mir persönlich macht sich dieser Tage auch Aufbruchstimmung breit.

Passend dazu lese ich in einer Spiegel-Ausgabe der letzten Wochen vom Titel-Thema „Hoffnung“. Optimisten gelten als naiv oder haben einen Mangel an Information, Pessimisten als smart und kritisch. Beide starren sie gebannt auf die Zukunft und projizieren ihre jeweilige Erwartungshaltung auf sie. Ins Tun kommen aktuell die Realistinnen, die mit dem Gegebenen im Hier und Jetzt umgehen und dabei weder das Grauen noch die positiven Entwicklungen der Welt aus dem Blick verlieren. Ideen zum Handeln gibt es genug. Aktuell und vor Ort beispielsweise unter www.talbeteiligung.de. Dort kann man für das kommende Bürgerbudget abstimmen, auch – aber nicht nur – unter dem Stichwort „Kultur“.

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