Kolumnee Freie Kultur Wuppertal: Bühne frei fürs Publikum

Es wird ein Tagesausflug erster Güte, ein Ausflug in diesen ganz besonderen Kultur- und Festivalsommer 2021.

 Tine Lowisch vom Freien Netzwerk Kultur.

Tine Lowisch vom Freien Netzwerk Kultur.

Foto: CLAUDIA SCHEER VAN ERP

Es verspricht, richtig gut zu werden in diesem Kultursommer. Im Juli werde ich versuchen, meinen ersten analogen Kulturbesuch zu buchen. Im Moment suche ich mir dafür in aller Ruhe etwas ganz Besonderes aus. Für meinen Neustart als Kulturbesucherin plane ich bereits seit Wochen akribisch meinen allerersten Kultur-Trip nach dieser ach so langen Durststrecke. Es wird ein Tagesausflug erster Güte, ein Ausflug in diesen ganz besonderen Kultur- und Festivalsommer 2021.

Wer, so wie ich, seit Jahren Kulturtermine sammelt, sichtet und sortiert, merkt ganz genau, was sich verändert hat. Das Füllhorn voll mit Kultur – Ereignissen quillt schier über, genauso wie der Kultur-Kalender. Die Einladungen zu Ausstellungen stapeln sich bereits. Vor allem zu Kunstausstellungen in ganz NRW, da waren und sind die Wege zur Kunst immer schon schön kurz gewesen und so nun besonders gut geeignet für neue, erste Gehversuche in veränderten Zeiten. Auch dazu: Herzlichen Glückwunsch, NRW.

Schon seit ein paar Tagen flattern sie wieder herein, die Berichte und Besprechungen von wirklichen und über wahrhaftig erlebte Kunst- und Kulturveranstaltungen, und so manchem entspringt aus tiefster Seele ein: Endlich wieder…! Ich lese begierig von ersten Konzerten, die, so wird formuliert, mit Publikum stattgefunden haben, nicht mehr, wie man früher sagte, vor Publikum. Es wird von Lesungen erzählt, bei denen Zuschauer den Autor oder die Autorin interaktiv mit einer Art Klang-Buzzer unterbrechen dürfen, um eine Frage zu stellen.

Eine Frage mitten aus dem Publikum, die keinen Aufschub duldet, weil sie so sehr auf dem Herzen brennt? Wer sich bei so einer oder einer ähnlichen Veranstaltung mit hohem performativen Anteil in Zukunft auf diese Weise involvieren lässt, darf wahrlich keine Bühnenangst mehr kennen. In den nächsten Wochen werden Theateraufführungen Premiere haben, in denen die Besucher bei Bedarf und aus freien Stücken spontan kleine Rollen übernehmen können.

Und natürlich wird es auch postnormale neue Formate für Ausstellungen geben, in denen dann zum Beispiel Betrachter von Kunstwerken beim Betrachten gespiegelt oder fotografiert, dann gescannt oder sogar zwei- oder dreidimensional reproduziert oder ausgedruckt werden können. Und dann ausgestellt? Alles bereits lange geplant und soweit vorstellbar. Es geht wieder los, Kultur-Events werden endlich wieder stattfinden: mit echtem Publikum und das sogar vor Ort! Publikum, das in den letzten Monaten so schmerzlich vermisst wurde, dass sich jetzt, so scheint es, der Umgang mit dem Publikum wohl radikal verändern wird.

Vieles auf den Kultur-Agenden, in den Projektbeschreibungen oder Pressemitteilungen liest sich, bei genauerer Betrachtung, an dieser Schnittstelle anders als zuvor. Frei nach dem Motto „was knapp ist, wird geschätzt“ hat in der Stille und Einsamkeit wohl ein Perspektivwechsel in Bezug auf das Publikum stattgefunden. Das Publikum hat jetzt Premiere, denn ohne Publikum ist alles Probe. Sie und ich und alle, die wir wiedersehen, sind jetzt Kulturgut, das man leidenschaftlich schätzen und pflegen wird.

Nach Auffassung der Kunst-und Kulturschaffenden von Aachen bis Wuppertal, von Blankenese bis Berlin heißt das das dann wohl: Seit wir euch so stark vermissen, wissen wir, was wir an euch haben, und geben euch in Zukunft gerne einen Part unserer Bühne frei. Das Experiment startet in diesem Kultur-Sommer 2021, also versuchen wir es: Bühne frei fürs Publikum.

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