Dilemma der Umfrageinstitute Wahlforschung: Ein nicht unriskantes Spiel mit Zahlen

Berlin (dpa) - „Wahlen muss man gewinnen, nicht Umfragen.“ Den Spruch bringen Politiker in unterschiedlichen Abwandlungen immer wieder gern. Vor allem wenn es mal nicht so gut läuft mit den Befragungen.

Dilemma der Umfrageinstitute: Wahlforschung: Ein nicht unriskantes Spiel mit Zahlen
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Alle reden sie runter, aber alle gieren danach. Denn je näher die Wahl rückt, umso mehr stellt sich für Politiker die Frage: Wie war ich - bisher? Wo steh' ich? Manche entwickeln sich angeblich regelrecht zu Umfragen-Junkies. Doch es ist ein risikoreiches Spiel mit den Zahlen - für Wahlforscher wie Politiker.

Man braucht gar nicht auf Bundes- und Landtagswahlen zurückblicken, bei denen nach den Umfragen fälschlicherweise schon Sieger und Verlierer feststanden, bevor gewählt wurde. Es reicht die Erinnerung an die Wahl von US-Präsident Donald Trump, die lange für völlig ausgeschlossen galt. Oder an die Brexit-Abstimmung der Briten über den Austritt aus der EU.

In diesem Dilemma werden die von ARD und ZDF beauftragten renommierten Wahlforschungsinstitute Infratest dimap und Forschungsgruppe Wahlen nicht müde zu betonen: Wir können nur die Stimmung messen zum Zeitpunkt der Umfrage. Es ist eine Momentaufnahme. Vor einigen Wochen lag die AfD bei sieben Prozent, dann kam das Flüchtlingsthema wieder hoch. Wahlforschung kann bestimmte Meinungsprozesse abbilden. Aber: Zehn Tage vor der Wahl ist zehn Tage vor der Wahl. Niemand weiß, ob der, der am Telefon seine Parteipräferenz genannt hat, auch tatsächlich zur Wahl geht.

Die Befragung der Wahlbürger ist heute technisch besser als vor 20 Jahren. Bundesweit wird in der Regel zu 70 Prozent über das Festnetz befragt und zu 30 Prozent mobil. Bei solchen Umfragen gibt es im wesentlichen drei bis vier Unsicherheitsfaktoren: die Unentschlossenen, die Extremen, die Taktierer und die Briefwähler - abgesehen von Hochwasser, Katastrophen wie in Fukushima oder einem Anschlag.

Rechte galten früher als unbekannte Wesen, ihr Abstimmungsverhalten war schwer einzuschätzen. Denn sie trauten sich nicht, sich zu outen. Grundsätzlich gilt: Je extremer desto schwieriger. Heute haben die extremen Parteigänger allerdings weit weniger Hemmungen zu sagen, was sie denken und vor allem was sie wählen. Das zeigen die in die Kameras brüllenden Wutbürger immer wieder.

Bei der AfD ist die Einschätzung heute also nicht mehr so schwierig wie früher bei Republikanern, DVU (Deutsche Volksunion) oder NPD. Unsicherheiten liegen eher darin, abzuschätzen, wie viel in der heute rechtskonservativen bis rechtsradikalen Partei noch an alter Bernd-Lucke-AfD steckt, an liberalen Euro-Kritikern.

Der Wähler ist heute ein „flüchtiges Wesen“. Es gibt inzwischen nichts Schwierigeres, als Stammwähler zu definieren, also Wähler, die über mehrere Legislaturperioden der gleichen Partei ihre Stimme geben. Es gibt mehr Wechselwähler und daher eine große Zahl Unentschiedener. Die halten sich bis in die Wahlkabine hinein offen, wo sie ihr Kreuzchen machen, und sind deshalb für Umfragen nur schwer zu fassen. Die Bindung an sogenannte Volksparteien etwa hat generell stark nachgelassen.

Taktierer, also solche Wähler, die Anhänger eine bestimmten Partei sind, aber immer auch mögliche Koalitionen ihrer Partei im Auge haben, wählen nach solchen taktischen Gesichtspunkten. In der Regel geben dann Anhänger einer der beiden großen Parteien CDU und SPD ihre Zweitstimme potenziellen kleineren Koalitionspartnern wie FDP oder Grünen. Auch deren Entscheidung fällt oft erst in der Wahlkabine.

Das Problem der Briefwähler taucht erst am Wahlsonntag auf. Dann werden ab 08.00 Uhr an etwa 450 Wahllokalen stichprobenartig Wähler, die gerade ihre Stimme abgegeben haben, von den Wahlforschern gebeten, dieses anonym nochmals für die Prognose um 18.00 Uhr zu tun. Diese Prognose hat eine wesentlich höhere Genauigkeit als Umfragen. Allerdings fehlen hier zur Einschätzung das Stimmverhalten der Briefwähler. Die werden immer mehr und liegen dieses Mal bei 25 bis 30 Prozent.

Was die Wahlforscher also letztlich machen, ist, sowohl bei ihren Umfragen vor dem Wahltag als auch bei der (genaueren) Prognose am Wahltag ihre Rohdaten auszuwerten. Diese Rohdaten lassen einen gewissen Interpretationsspielraum zu. Und den einzuschätzen, braucht es viel Erfahrung. Bei Trump und Brexit wurde das Rohmaterial offensichtlich falsch interpretiert.

Das wiederum kratzt an der Glaubwürdigkeit aller Institute. Doch die weisen immer wieder darauf hin, dass es bei solchen Erhebungen auch eine gewisse Fehlerquelle gibt. Wie vorsichtig man bei einer Ungenauigkeit von einem Prozentpunkt nach oben oder unten sein muss, bekam die FDP 2013 zu spüren. Zuletzt sahen die Demoskopen sie knapp drin im Bundestag. Der Ausgang ist bekannt.

ARD und ZDF hatten bis 2013 einvernehmlich darauf verzichtet, in der letzten Woche vor der Wahl Umfragen zu veröffentlichen, obwohl die Daten in diesen Tagen weiter erhoben werden. Das ZDF hatte dann dieses Auszeit auf drei Tage verkürzt. Das letzte Politbarometer sollte am Donnerstagabend im „heute journal“ gesendet werden. Die ARD veröffentlichte auch dieses Mal ihre letzte Umfrage vor der Bundestagswahl 2017 am vergangenen Donnerstag.

Es gibt inzwischen andere, wissenschaftliche Projektionsmodelle, um den Wahlausgang zu simulieren. Doch diese stützen sich letztlich auch auf Umfragen. Und sie genügen dem schnellen Rhythmus der Veröffentlichung nicht, der heute gefordert wird. Sie können höchsten komplementär zur Kenntnis genommen werden.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor vor allem für die Wahlbeteiligung ist das Wetter. Das soll am Sonntag relativ wahlfreundlich werden, ohne Regen.

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