Zeitreise auf der Plattenbörse: Die erste Liebe gibt’s für zwei Euro

Auf Schallplattenbörsen begegnen einem alte Tonträger, unvergessene Stars und außergewöhnliche Menschen.

Wuppertal. Es geschah am 17. Juli 1981. In die Arena des Rockpalastes stiegen die Pretenders auf die Bühne. Der WDR übertrug das Konzert bis in die hessische Provinz, wo eine Gruppe Jugendlicher ein Matratzenlager ums betagte Röhren-TV gestapelt hatte. Eine laue Sommernacht kündigte sich an, garniert von einer Stimme, die durch Mark und Bein ging. Chrissie Hynde, die Frau, deren Pony so markant bleiben sollte wie der Lockenkopf von Bob Dylan, spielte Gitarre wie eine Göttin der Finsternis und sang noch besser. Bei "Brass In Pocket" war es um mich (17) geschehen. Fortan sollte Chrissie Hynde mein musikalisches Leben begleiten, immer wieder ist sie mir begegnet, zuletzt am Sonntagvormittag - für zwei Euro in der Stadthalle.

Auf der Schallplattenbörse ist das Sensationsalbum "Pretenders" von 1980 (da wo Chrissie die rote Lederjacke trägt) mittlerweile in die Krabbel-Box abgestiegen. Gleich viermal ist die Vinyl-Scheibe in der Restekiste vertreten. Sämtliche Exemplare sind ziemlich verkratzt, was auf eine bewegte Party-Vergangenheit schließen lässt.

Ein Besuch der Schallplattenbörse gleicht wahlweise einer Reise in die eigene Vergangenheit, einem medizinischen Experiment (wie lange hält man im Mantel in einem sauerstoffentleerten Raum durch) oder der Begegnung mit Wesen von einem anderen Stern, deren Klamotten ebenso viel über sie verraten wie ihre manische Leidenschaft für schwarzes Plastik. Erkennbar sind sie am muskelbepackten Zeigefinger, mit dem sie es schaffen, stundenlang Schallplatten durchzublättern - ohne dabei einen Laut von sich zu geben.

Hardcore-Fans müssen nicht essen und nicht trinken, nur manchmal, da ziehen sie geschickt ein Exemplar in die Höhe, wiegen es in ihren Händen. Auf ihren Gesichtern spiegelt sich die ganze Vielfalt des Profis. Ein horizontaler Blick auf die Rillen, ein zauderndes Kopfnicken und schon verschwindet die Scheibe wieder in der Anonymität tausender Retro-Angebote. Die Tonträger, die den Weg aus der Masse finden, landen in den Stofftaschen der Jäger und Sammler.

Viele sind bereit, viel Geld auszugeben. Mick Taylors Live-Auftritt von 1986 in Chicago steht für sagenhafte 90 Euro in einer Plastikkiste. Natürlich gibt es auch CDs auf der Schallplattenbörde, aber wer zahlt schon drei Euro Eintritt um dann Allerwelts-Silberscheiben zu erstehen? Die meisten Börsengänger dürften - wenn überhaupt - den Rockpalast als Jugendliche erlebt haben. Aber es gibt auch Exoten unter den Gästen. Junge Menschen zum Beispiel, wie Daniel Book (22) und Lisa Hopp (20). Aufgewachsen im CD- und MP3-Zeitalter wirken sie im Kreise der Plattenabspieler wie mitgebrachter Nachwuchs, den Papa irgendwo zwischen Abba und Zappa vergessen hat.

Daniel und Lisa arbeiten sich gerade durch das Gesamtwerk von Led Zeppelin. "Mein Vater ist schuld", sagt Lisa. "Durch ihn weiß ich, echte Schallplatten zu schätzen." Warum? "Sie hören sich besser an, fassen sich besser an, sehen besser aus", sagt Daniel.

Junge Kunden sind aber längst keine Seltenheit mehr an den Vinyl-Ständen. Vinyl ist in, Plattenspieler gehören wieder zum Standard der guten Musikanlage. Das beobachten Händler wie Jürgen Henke und Ralf Henning aus Altena. Seit vielen Jahren schon tingeln sie von Börse zu Börse, um die schwarzen Scheiben an Mann und Frau zu bringen. "Die Schallplatte erlebt seit langem schon eine Renaissance", sagt Jürgen Henke und glaubt auch zu wissen, warum. "Die Menschen trauen der CD nicht. Die Platte ist verlässlicher. Wir haben Scheiben im Angebot, die sind älter als ich."

Die Zahlen belegen den Trend. Laut Bundesverband der Phonografischen Wirtschaft haben sich die Verkaufszahlen der klassischen Schallplatte seit Mitte der 90er zuletzt mehr als verdoppelt. DJs greifen auf die Tonträger ebenso verstärkt zurück wie auf die Highender mit Musikanlagen so teuer wie Kleinwagen.

Für solche Geräte taugen die Pretenders ohnehin nicht. Sie bleiben in der Krabbel-Box. Tut mir Leid Chrissie, aber ich hab dich - auch - auf CD.

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