Ohne Engels kein Marx — aber der war fast nie in Wuppertal

Die beiden überwanden große Distanzen mit intensivem Briefkontakt.

Ohne Engels kein Marx — aber der war fast nie in Wuppertal
Foto: Anette Hammer

„Wir beide führen ein Compagnie-Geschäft.“ So pflegte Friedrich Engels über seine — ein Leben lang währende — Beziehung zu seinem kongenialen Partner Karl Marx zu sagen. Sie trafen ein erstes Mal in Berlin aufeinander, der Unternehmersohn aus Barmen und der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker aus Trier, der sich schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine gewisse Berühmtheit in den Kreisen der kritischen Intelligenz geschaffen hatte und von Frankreich aus publizistisch tätig war.

Anfängliche Skepsis wandelte sich erst später in gegenseitigen Respekt und schließlich schier grenzenlose Sympathie. Friedrich Engels, das sonst so selbstbewusst bis gelegentlich auch herablassend arrogant auftretende Multitalent aus dem Wuppertal, war für seinen neuen Partner Karl Marx Freund, Impulsgeber, Berater, Motor und nicht zuletzt materieller Unterstützer in einer Person. Zeit seines Lebens aber trat „der General“ bereitwillig hinter die Person seines Freundes „Mohr“, wie er ihn nannte, zurück und spielte in eigenen Worten unverzagt bescheiden „die zweite Fidel“.

Zu Unrecht, wie manche Historiker und Engels-Biografen inzwischen übereinstimmend feststellen. Andere wiederum behaupten sogar: Ohne Engels kein Marx. Das ist nicht übertrieben, wie es der bekannte Amsterdamer Historiker Prof. Marcel van der Linden, kürzlich zu Gast im Tal, formulierte: „Ohne ihn wäre der Marxismus niemals zu einem geschlossenen Weltbild geworden.“

Beide Denker verbrachten ihr Leben zu einem Großteil fern der Heimat: im Exil, auf der Flucht oder im nicht unbedingt freiwilligen Auslandseinsatz für das Familienunternehmen. Die Reiserouten des staatenlosen Karl Marx und des ausgebürgerten Friedrich Engels bewegten sich kreuz und quer durch Europa, durch Metropolen und Provinzen: Paris, Brüssel, Köln, die Schweiz und Baden, Salford, Manchester und London. Nicht alle dieser Etappen synchron, sondern zumeist zwangsläufig voneinander getrennt. Räumliche Distanzen wurden durch intensive Briefkorrespondenz überbrückt: die Kommunikationsform der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Die ungeheure Produktivität der Schreiber hinterließ ein wahres „Dickicht der Briefe“ und damit historische Quellen von hohem Rang, die zum besseren Verständnis eines ganzen Jahrhunderts beitragen.

Ins Wuppertal, jener frühindustrielle Agglomerationsraum mit den exponentiell wachsenden Boomtowns Barmen und Elberfeld, dem „deutschen Manchester“, wie gelegentlich und dabei doch gehörig übertreibend gesagt wurde, ist Karl Marx (fast) nie gekommen. Nur einmal offiziell 1848, als die bürgerliche Revolution hier ein Vorspiel hatte und später noch einmal inkognito: Im April 1861 ist er auf der Durchreise in Elberfeld im Hotel Weidenhof abgestiegen und hat darauf in Barmen den Dichter Abraham Peter Carl Siebel, einen Bekannten seines Freundes Friedrich besucht. Das war es. Die empirische Feldforschung über die Ausprägung des modernen Kapitalismus, den er früh und meisterhaft analysierte, überließ er weitgehend seinem Partner Engels. Und dieser betrieb seine Erkundungen über die „Lage der arbeitenden Klasse“ am Sitz des Familienunternehmens Ermen und Engels in Salford, einem Vorort von Manchester. Dort begab er sich nach Feierabend in die heruntergekommenen Slums der irischen Fabrikarbeiter, lernte hier in den Milieus seine Lebensgefährtin Mary Burns kennen und gewann damit Einsichten in Lebenswirklichkeiten, die Karl Marx in dieser Authentizität und Dichte vollständig fehlten. So entstand eine empirisch dichte und brillante Sozialreportage über die Verlierer der Modernisierung als geradezu brachiale Abrechnung mit dem „Raubtierkapitalismus“ der Zeit. Marx schätzte deren Methodenmix und klare Sprache in hohem Maße. Schließlich hatte er es nie in die Arbeiterviertel von Salford geschafft, und auch nicht wirklich ins Wuppertal.

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