Missbrauch vor 60 Jahren: „Ich will keine Entschuldigungen“

Wie eine 70 Jahre alte Wuppertalerin mit dem Trauma lebt, als Kind von einem Kaplan missbraucht worden zu sein.

Wuppertal. Gestern kam der Brief bei Elvira K. (Name von der Redaktion geändert) in Wuppertal an. Absender: das Generalvikariat des Erzbistums Köln. Es ist eine Entschuldigung für etwas, das vor mehr als 60 Jahren in Wuppertal passiert sein soll. Damals war K.ein junges Mädchen. Der damalige Kaplan einer katholischen Gemeinde im Nachkriegs-Wuppertal bestellte sie zum Sortieren der Gemeindeblätter ein und soll sie dann missbraucht haben.

Laut K. ging das von 1947 bis 1949. Es gibt viele Abhandlungen darüber, wie Kinder Missbrauch verdrängen. Elvira K. schob die Erinnerungen weg. 1953 wechselte der Kaplan in eine andere Gemeinde auf der linken Rhein-Seite. K. führte fortan ein scheinbar normales Leben. Sie wurde erwachsen, heiratete, bekam zwei Kinder, arbeitete als Buchhalterin. In Grund- und Hauptschulen gab sie sogar mehrere Jahre lang Religionsunterricht.

Doch hin und wieder weinte sie zu Hause. 1989 suchte sie sich einen Therapeuten. Die Zäsur kam im Jahr 1994. "Ich sah auf einmal wieder die schrecklichen Bilder von damals", sagt die heute 70-Jährige. Und: "Ich wollte das nicht glauben." Für den Therapeuten war damals klar: Alles Anzeichen für verdrängten schweren Missbrauch in der Kindheit.

Es begann eine quälende Zeit der Aufarbeitung und der Heilungsversuche. Über Jahre war ElviraK. immer wieder in der Nervenklinik. Erst sechs Jahre nach der Wiederkehr der Erinnerung hatte die Wuppertalerin wieder Kraft. Im Juni 2002 schrieb sie an Kardinal Meisner, schilderte, was ihr widerfahren war. Sie bat um Auskunft, ob der Weggang des Kaplans aus Wuppertal im Jahr 1953 irgendetwas mit ihrem Schicksal zu tun hatte. "Der Brief damals war wie ein Befreiungsschlag für mich", sagt sie heute.

In Wuppertal wurde ein Gespräch vereinbart. Es war eine einzige Enttäuschung. Elvira K.erinnert sich vor allem daran, dass man ihr damals sagte, es sei ja nichts bewiesen. Wie berichtet, ist jener Kaplan, der später im Linksrheinischen Pfarrer wurde, 1984 gestorben. Er ist offenbar nie mit den Vorwürfen konfrontiert worden. Laut Erzbistum enthält die Personalakte des Mannes keinen Hinweis auf Verfehlungen. Der Wechsel im Jahr 1953 sei keine Strafversetzung gewesen.

Elvira K. musste es hinnehmen. Sie war mittlerweile dauerhaft arbeitsunfähig geschrieben. Die Jahre vergingen. 2008 schrieb sie erneut ans Erzbistum Köln. Sie bedankte sich, dass man dort mit einem Missbrauchsfall im Oberbergischen "so offen umgegangen" sei.

Gibt es doch eine Chance auf eine Annäherung? Elvira K.sagt: "Nein." Seit Jahrzehnten kann sie keine Kirche mehr betreten. Ohne Begleitung vor die Tür zu gehen, ist ihr nahezu unmöglich. Kürzlich stand sie einem in Schwarz gekleideten Geistlichen gegenüber. Der Mann war gerade aus einem Bus ausgestiegen. Ein reiner Zufall. "Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen", sagt sie. Familienangehörige erledigen die Einkäufe. "Ich kann allein nichts mehr machen", sagt die 70-Jährige.

Und das gestrige Entschuldigungsschreiben des Erzbistums? Man sei angesichts der Geschichte der Elvira K. von "Trauer und Scham erfüllt" heißt es darin. Und: "Wir möchten daher alles tun, gemeinsam mit Ihnen nach Möglichkeiten der Hilfe zu suchen." So ist die Lage im Jahr 2010. Es ist ein neuer Umgang mit einem Thema, das lange tabu war.

Doch Elvira K. schüttelt den Kopf: "Ich will keine Entschuldigungen. Die helfen mir nicht." Wuppertals Stadtdechant Bruno Kurth glaubt der Frau (die WZ berichtete). Und er sagt, dass er sie verstehen kann. Aber er will die Hoffnung nicht aufgeben: "Vielleicht gibt es doch noch einen Weg der Verständigung."

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