Bergische Universität Wuppertal „Man kann Kinder kaum überfordern“

Uni-Rektor Lambert T. Koch über die Anforderungen an Bildung in der heutigen Zeit und nötige Änderungen im System.

Lambert T. Koch: „Man kann Kinder kaum überfordern“
Foto: Andreas Fischer

Herr Koch, wir leben in einer Bildungsgesellschaft. Bildung startet im Kleinkindalter und hört im Grunde nie auf.

Lambert T. Koch: Das stimmt. Und dabei ist es wichtig, früh so vorzugehen, dass Chancen eröffnet und Potenziale freigesetzt werden. Dabei muss man langfristig denken und nicht nur den nächsten Schritt im Auge behalten.

Warum?

Koch: Wir leben in Zeiten, in denen das Normalarbeitsverhältnis erodiert. Arbeitnehmer behalten in der Regel nicht mehr 40 Jahren den einen Job, für den sie ausgebildet wurden. Bildung muss deswegen früh vermitteln, neues Wissen als Chance wahrzunehmen und es mit Freude aufzunehmen. Den Job zu verlieren, so tragisch das im Einzelfall ist, darf Menschen nicht lähmen. Selbstvertrauen und Lernfähigkeit müssen ermöglichen, dass man sich erfolgreich und schnell eine neue Arbeitsumgebung erobert. Auf dieses Erfordernis muss die Bildungslandschaft Antworten finden. Dazu gehört auch, dass die gesamte Lebensstrecke, gerade weil sie heute kurviger ist, durch je passende Bildungsangebote begleitet wird.

Was kann man tun?

Koch: In Wuppertal haben wir ein tolles Beispiel für den Umgang mit diesen Herausforderungen. Die Junior Uni. Sie ist eine gute Ergänzung zum Schulsystem. Sie setzt an dem grundsätzlich bei allen Kindern vorhandenen Kreativitätspotenzial an, stärkt so das Selbstvertrauen der jungen Studierenden und fördert die Lernfreude. Grundschulen versuchen ihr Möglichstes, das will ich gar nicht abwerten. Aber angesichts der teils enormen Klassengrößen, in Verbindung mit überbordenden Integrations- und Inklusionsaufgaben, die viele Lehrkräfte schlicht überfordern, ist es wahnsinnig schwer, ausreichend individuell auf Kinder einzugehen und Kreativitätspotenziale und Lernfreude zu fördern. Da kann eine Einrichtung wie die Junior Uni helfen, was dann auch den Schulen wieder zu Gute kommt.

Aber Bildung beginnt schon früher - im Elternhaus und mit der frühkindlichen Betreuung.

Koch: Die Aufgabe Bildung beginnt im Grunde mit der Geburt. Nach den Eltern kommen dann relativ schnell Einrichtungen ins Spiel, die die Kinder altersgerecht fördern sollen. In Deutschland haben wir aber das Grundsatzproblem, dass man stets Angst hat, Kinder zu überfordern. Dabei kann man, wenn man es liebevoll und altersgerecht angeht, Kinder kaum überfordern. Im Gegenteil, es ist entwicklungspsychologisch erwiesen, dass gerade eine anspruchsvolle Frühförderung zu großen Erfolgen führt. Das sieht man auch in Ländern, die Kinder zwischen drei und sechs Jahren schon vorschulartig unterstützen.

Was ist die Folge, wenn man das nicht tut?

Koch: Verrückterweise verschiebt die Angst vor früher Überforderung genau diese auf später. Wir versuchen, die Kinder im Kindergarten oder der Grundschule zu schützen, vor Stress zu bewahren. Aber dafür überfordern wir sie dann etwa an den weiterführenden Schulen. Oder sie fühlen sich irgendwann dem beruflichen Stress nicht gewachsen.

Wie kann man an dem System etwas ändern?

Koch: Wichtig wäre, dem Personal im Bildungssystem, das entscheidend an den Stellschrauben der Zukunft unseres Landes arbeitet, mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Sowohl in der Gesellschaft an sich als auch, als ein Ausdruck dessen, in Sachen Ausbildung und Gehalt.

Unabhängig davon fehlt es aber an Plätzen in der frühkindlichen Betreuung.

Koch: Wuppertal steht nicht schlechter da als der Durchschnitt. Aber der Durchschnitt ist schlecht. Daher müssen die politischen Weichen im Bund und den Ländern noch viel entschlossener in Richtung der neuen Anforderungen gestellt werden. Sonst tappen wir in die Falle, dass später einmal die gesamtgesellschaftliche Problemlösungsfähigkeit nicht mehr ausreicht, um den großen Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden. Mir ist klar, dass dieses Umsteuern Zeit benötigt, weshalb wir zugleich auch mehr private Initiativen benötigen. Zum Beispiel war die pädagogische Arbeit von Kirchen und Vereinen früher viel ausgeprägter. Da ist Vieles aus der Mode geraten, um es einmal so zu sagen. Doch klar ist, wir benötigen solche Unterstützung, gerade auch aus dem Ehrenamt heraus.

Was kann in der Schule getan werden, um die Entwicklung der Schüler zu fördern?

Koch: Ich wünsche mir kleinere Klassen, damit gerade schwächere Kinder mit wenig Unterstützung vom Elternhaus nicht verloren gehen. Das ist zugleich wichtig für die Lehrkräfte, die sonst nicht mehr alle Kinder erreichen und zunehmend frustriert sind. Außerdem dürfen die Kinder nicht zu früh in Schubladen gesteckt werden. Wir wissen heute, wie unglaublich unterschiedlich Leistungsentfaltungskurven verlaufen. Darauf muss man reagieren. Etwa über längere Grundschulzeiten, durchlässigere Schulsysteme und individuellere Begleitung beim Systemwechsel.

Zum Beispiel?

Koch: An der Uni haben wir darauf reagiert, indem wir beispielsweise Schülern und jungen Studierenden verschiedenste Übergangskurse anbieten. Im Fall der Schüler, um rechtzeitig schon mal Uni erleben zu können, bei den Studierenden, um mögliche Defizite aufzuarbeiten und dadurch erfolgreicher durchstarten zu können. Ich denke, wir müssen im Bildungssystem den jungen Menschen insgesamt mehr Orientierung geben.Dass die fehlt, beklagen auch Schüler am Ende der Schulzeit.

Wie kann man da helfen?

Koch: Meine Idee wäre, eine Art „Lebensweltliche Orientierung“ in den Schulen zu integrieren - ein Fach, das die ganze Schulzeit begleiten könnte. Erst spielerisch, dann immer detaillierter. Das könnte Themen wie Gesundheit und Ernährung ebenso aufgreifen, wie den Umgang mit Werbung und digitalen Angeboten - und eben auch die Berufsvorbereitung.

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