„Palermo, Palermo“: Tänzer lassen hinter die Fassade blicken

Das Mauerfall-Stück ist seit Donnerstag wieder im Opernhaus zu sehen. Es erzählt von Verfall und Verletzlichkeit.

Wuppertal. Wunsch und Wirklichkeit trennt mitunter das entscheidende Quäntchen Akrobatik: Wenn das Leben gerade besonders schwer erscheint, kann man leicht auf den Gedanken kommen, einfach die Wände hochzugehen. Bleibt die Gefahr, auf den Kopf zu fallen — es sei denn, man weiß, wie man seine Mitspieler zu nehmen hat.

Die Tänzer von Pina Bausch wissen es: Im Opernhaus demonstrieren sie noch bis Sonntagabend, wie scheinbar einfach man sich gegenseitig auf den Arm nehmen kann. Sie drehen, wenden, winden sich, heben, halten und tragen sich — damit jeweils einer von ihnen gut gesichert die Seitenwand hinauflaufen kann.

„Palermo, Palermo“ heißt das Stück, das Menschen, aber auch Erwartungen auf den Kopf stellt: Wer glaubt, dass in einer Produktion, die 1989 entstanden ist, alles zwangsläufig auf die Wiedervereinigung zu beziehen ist, hat vermutlich nicht weit genug gedacht.

Denn die lange Kette aus kurzen Sequenzen vereint Pina-Bausch-Typisches: leise Melancholie und laute Knalleffekte, witzige Flirtversuche und ernst zu nehmende Liebesbedürfnisse, kleine Glücksmomente und große Gesten der Trauer.

Die menschliche Gefühlswelt ist zerbrechlich — und so manche Fassade brüchig. Das entlarvt sich schon am Anfang. Denn die Koproduktion mit dem Teatro Biondo Stabile di Palermo, die 1989 Uraufführung feierte und seit 2002 nicht mehr in Wuppertal zu sehen war, beginnt mit dem imposanten Einsturz der Kulisse: Wie schnell die Welt aus den Fugen geraten kann, zeigt Bühnenbildner Peter Pabst mit einer riesigen Wand, die am Anfang frontal zum Publikum steht, jedoch schnell in Einzelteile zerfällt.

Ein Überraschungsmoment, der Wirkung zeigt, aber auch (absichtlich?) in die Irre führt. Der historische Mauerfall ist nicht das Hauptthema des knapp dreistündigen Abends, jedenfalls nicht das zentrale. Es geht viel eher um die vielen kleinen Mauern, die Menschen um sich herum bauen — als Schutzmechanismus, zum Zeichen der Selbstbestimmung oder gar aus Arroganz.

Freundliche Worte kann man sich eben nicht kaufen, selbst mit Kreditkarten nicht. Das macht Regina Advento als patzige Kellnerin ziemlich schnell deutlich. Cristiana Morganti, ihre „Kundin“, bleibt staunend zurück.

Auch für andere bricht eine Welt zusammen: Frauen rufen immer lauter nach Männern und flehen förmlich nach einer Umarmung — nur, um sie direkt danach wieder von sich zu stoßen. Steif wie Puppen lassen sich die Damen von Männerhänden tragen. Andererseits sagen sie auch klipp und klar, was sie wollen: Mit dem Stolz der Verzweiflung lässt sich Julie Shanahan auf eigenen Wunsch mit Tomaten bewerfen.

Apropos Italien: Das Spiel mit den Klischees ist nicht abgegriffen, sondern entfaltet Poesie oder eröffnet überraschende Perspektiven. So kann man auf Tomaten auch schießen. Essen könnte man ja auch teilen, doch Nazareth Panadero gibt das egoistische Trotzkind, das seine Spaghetti für sich haben will. Andrey Berezin wird vom Macho-Boxer zur Drag Queen — und die Bühne, über die er in Stöckelschuhen stolziert, am Ende vom Trümmerfeld zum Garten. Von dauerhaften Frühlingsgefühlen sind die Figuren aber nach wie vor weit entfernt: Sie fügen sich selbst Schmerzen zu, schneiden sich den Arm auf, braten ihre eigene Haut, spielen mit dem Feuer.

Trotzdem ist über all dem die Hoffnung auf einen Neuanfang zu spüren — denn der zweite Teil kommt sanfter und versöhnlicher daher. Wunsch und Wirklichkeit sind aber immer noch zweierlei: So mancher Zuschauer sehnt sich sicherlich nach mehr Ensemble- und Tanzszenen — die vergleichsweise wenigen, die es gibt, überzeugen allerdings durch starke Bilder. Ein melancholisches Stück, das bekommt, was es verdient hat: starken Beifall und stehende Ovationen.

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