Mit der Kraft der Freundschaft

„Iphigenie auf Tauris“ beeindruckt im Barmer Opernhaus.

Wuppertal. Seinem Schicksal kann man nicht entkommen, den eigenen Gefühlen kann man sich nicht entziehen, und wenn andere ein böses Spiel treiben, ist man am Ende ausgeliefert. Auch wenn sich Orest (Pablo Aran Gimeno) mit aller Kraft dagegenstemmt: Mit voller Wucht rennt er gegen einen Spiegel an. Ein Akt der Verzweiflung, der — als Zeichen für die unbändige Kraft der unsterblichen Kunst — irgendwie auch ein Spiegelbild der (Theater-)Geschichte ist: „Iphigenie auf Tauris“, von Pina Bausch 1974 erstmals zum Leben erweckt, ist inzwischen 38 Jahre alt — fasziniert aber immer wieder aufs Neue.

Und so kann sich im Barmer Opernhaus auch niemand dem „Phänomen Pina Bausch“ entziehen: Minutenlanger Applaus, stehende Ovationen und ein begeistertes Pfeifkonzert sind der krönende Abschluss eines zweistündigen Abends, der voller Dramatik, Dynamik und archaischer Kräfte steckt.

Vor allem der Abschiedsschmerz von Orest (Pablo Aran Gimeno) und Pylades (Fernando Suels Mendoza) geht am Samstagabend unter die Haut. Das Duo erwartet seine Opferung: Orest beklagt Pylades, der seinetwegen sterben müsse. Er will den Freund retten, Pylades jedoch das Opfer nicht annehmen. Pablo Aran Gimeno und Fernando Suels Mendoza geben die beiden Freunde eindringlich entrückt — am Rande der Verzweiflung, aber auch mit dem Stolz der Demütigen. Ein Spagat, der eindrucksvoll gelingt. Auch Ruth Amarante (Iphigenie) gibt ihrer Figur eine atem(be)raubende Menschlichkeit: eine große Stärke und zugleich eine große Verletzlichkeit.

Die Geschichte selbst ist so alt wie bekannt, so verwickelt wie verworren: Iphigenie, seit 15 Jahren Priesterin der Skythen, soll zwei Gestrandete rituell opfern, doch sie kann und will die Männer nicht töten. Welch ein Zufall: Es stellt sich heraus, dass einer der beiden — Orest — ihr Bruder ist.

Kaum zu glauben, aber wahr: Wer die letzten Stücke von Pina Bausch kennt, staunt umso mehr über das Frühwerk der Star-Choreographin (1940-2009). Die Gründerin des Wuppertaler Tanztheaters, später selbst ein Mythos, hatte das musikalische Drama von Christoph Willibald Gluck erstmals 1974 auf die Bühne gebracht. Die Kulisse trägt noch immer die Handschrift ihres 1980 verstorbenen Lebenspartners Rolf Borzik, der auch ihr Bühnen- und Kostümbildner war. Dass die dichte Choreographie nach wie vor berührt, liegt vor allem auch an der jungen Tänzergeneration, die längst nachwächst und — Schritt für Schritt — ihren Platz findet.

Dafür sorgt nicht zuletzt Dominique Mercy: Als Orest hatte er einst selbst den Tanz der Freundschaft gewagt, nun hat er zusammen mit Barbara Kaufmann und Malou Airaudo die Proben geleitet. Das Ergebnis ist berührend: Nicht nur mit Pablo Aran Gimeno wurde ein würdiger Nachfolger gefunden. Neue Impulse gibt es auch durch wechselnde Besetzungen — so kämpft Clémentine Deluy heute und morgen als Iphigenie gegen das eigene Schicksal an. Die Tänzer sind zweifelsohne die Schlüsselfiguren der göttlichen Geschichte. Viel Applaus gab es aber zu Recht auch für die Sinfoniker, die die heroischen Momente mit viel Hingabe vom Graben aus unterstützen (Leitung: Jan Michael Horstmann), den Chor der Wuppertaler Bühnen (Leitung: Jens Bingert) und sechs beeindruckende Solisten (Undine Dreißig, Thomas Laske, Kay Stiefermann, Lawrence Bakst, Miriam Sabba und Andreas Heichlinger), die rechts und links auf den Rängen stehen. Bravo-Rufe galten am Ende vor allem Undine Dreißig (Iphigenie) und Kay Stiefermann (Orest). Ein bewegender Abend also — und ein buchstäblich starkes Stück.

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