Michael Scheffel und Stefan Zweig: Eine gute Verbindung

„Die großen Erzählungen“, die Scheffel herausbringt, sind nicht nur für Germanisten zu empfehlen.

Wuppertal. Ein Buch, das laut Titel „Die großen Erzählungen“ verspricht, lässt keinen kleinen Anspruch erkennen. Michael Scheffel hat in der Tat ein hoch gestecktes Ziel: Dass Stefan Zweig ein großer Erzähler war, möchte der Dozent der Bergischen Uni wohl am liebsten aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft in die weite Welt hinausrufen — da ein Professor aber in der Regel lieber nachhallende Publikationen sprechen lässt, wählte der Literatur-Experte eine angemessenere Form.

Dabei erhält die uralte Germanisten-Frage, ob ein Werk im Einzelfall für sich sprechen soll oder nicht zuletzt auch mit Blick auf das große Ganze — auf die biografischen Besonderheiten des Autors — zu deuten ist, eine neue Antwort: In einem 20-seitigen Nachwort geht Scheffel auf die Hintergründe ein, die erklären mögen, weshalb Stefan Zweig (1881-1942) das Talent hatte, „die Feinheiten der Seelenregung seiner Figuren glaubwürdig auszuleuchten“. Der komprimierte Rückblick ist gut zu lesen, fundiert und verständlich.

Auch Nicht-Germanisten dürften fasziniert sein und der sprachlich wohlgefeilten Welt von Stefan Zweig ein gutes Stück näher kommen. Als Dramatiker, Lyriker, Essayist, Erzähler und Novellist war der gebürtige Wiener so erfolgreich, dass seine Bücher schon zu Lebzeiten in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden: „Einzelne Werke von Zweig sind nach wie vor populär, seine Person und sein Oeuvre aber sind einem breiten Publikum nicht mehr so selbstverständlich vertraut.“

Das soll sich nun ändern: Der Reclam-Band vereint Novellen, die zwischen 1913 und 1942 entstanden sind. „Der Amokläufer“ ist genauso darunter wie „Die unsichtbare Sammlung“. Auch „Angst“, die „Episode vom Genfer See“ und der „Brief einer Unbekannten“ sind eine Wiederentdeckung wert. „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ hat der Literaturwissenschaftler ebenso ausgewählt wie die berühmte „Schachnovelle“, die zu Recht den Schlusspunkt bildet — die Typoskripte hatte Zweig, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, unmittelbar vor seinem Suizid 1942 aus Brasilien verschickt.

71 Jahre später zeichnet Scheffel ein ausgewogenes Bild: Zu Beginn seiner Karriere sei Zweig ein „hochbegabter, im tiefsten Inneren aber wohl auch unsicherer Mann“ gewesen. Als „Genie der Freundschaft“ charakterisiert der Wuppertaler Dozent den Österreicher: Zweig hatte mit vielen Künstlern Kontakt. Dass Sigmund Freud zu seinen engsten Vertrauten zählte, lässt tief blicken — und wirft ein bezeichnendes Licht auf Zweigs klassisch geschlossene, formal straff durchkomponierte Novellen.

Die Auseinandersetzung mit Freud und dessen tiefenpsychologischen Studien haben offensichtlich Spuren hinterlassen. „Die Darstellung der Innenwelt des Menschen rückte ins Zentrum seines literarischen Interesses“ — während sich die gutbürgerliche Gesellschaft lieber auf die allgemein unterstellte Herrschaft von Vernunft und Selbstkontrolle berief. Alle Novellen verbinde „Zweigs besondere Begabung, spannende Geschichten von Figuren zu erzählen, die eine Leidenschaft zu irgendeiner Art von außergewöhnlicher Handlung treibt“, erklärt Scheffel. Außerdem geben sie „einen faszinierenden Blick in die Welt der Empfindungen, Träume und verdeckten Wünsche einzelner Subjekte“.

“ Michael Scheffel (Hrsg.): Stefan Zweig: Die großen Erzählungen, Reclam, 317 Seiten, 8,95 Euro.

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