Leonce und Lena suchen das wahre Ich

Büchners Lustspiel sei kein einfaches Stück, sagt Regisseur Marcus Lobbes. Am Freitag feiert er im Opernhaus Premiere.

Wer bin ich? Welche Rolle spiele ich? Wo fängt das wahre Ich an — und wo hört es auf? Es sind Fragen wie diese, die Regisseur Marcus Lobbes anstoßen möchte. Dabei war es eine ganz andere Frage, die der Arbeit an „Leonce und Lena“ die zentrale Denkrichtung geben sollte. Als der Wahl-Düsseldorfer vor neun Monaten erzählte, dass er Büchners Lustspiel am 25. Januar in Wuppertal in Szene setzt, kam der eigentliche Anstoß von seiner damaligen Gesprächspartnerin: „Machst du es realistisch oder als Märchen?“

Die Antwort gibt Lobbes neun Monate später im WZ-Interview — motiviert von einer wachsenden Büchner-Begeisterung, die sich im Opernhaus entwickelt hat. Denn dort ist die Entscheidung längst gefallen. Realismus oder Märchen? Lobbes hat keine der beiden Varianten gewählt: Seine Inszenierung soll beide Seiten beinhalten. „Vielleicht sind wir sogar die Ersten, die den Versuch unternehmen, beides gleichzeitig zu spielen“, erklärt der Regisseur, der am kommenden Freitag Premiere feiert.

Um 19.30 Uhr fällt der Startschuss zu einem majestätischen Verwirrspiel: Prinz Leonce und Prinzessin Lena fliehen — getrennt voneinander — Richtung Italien, weil keiner der beiden die von anderer Hand eingefädelte Hochzeit besiegeln will. Die beiden kennen sich nicht, treffen sich aber auf der Flucht — ohne zu wissen, wer der andere ist. Sie spielen ein Spiel, verschleiern die eigene Identität — und verlieben sich. Obwohl oder gerade weil sie ihr wahres Ich verbergen?

Oliver Held, Dramaturg

Dabei formuliert Oliver Held die Frage aller Fragen: „Warum wir es machen?“ Der Dramaturg überlegt — und überrascht. Denn wer glaubt, dass das Produktionsteam den Szenenreigen von 1836 kategorisch in den Himmel lobt, landet schnell auf dem Boden der Tatsachen. „Es ist kein leichtes Stück“, betont Held. „Der Text steckt voller Zitate.“ Und zwar voller Andeutungen, die schon zur Entstehungszeit eine Herausforderung für das Publikum waren. „Das sind Anspielungen, die heute keiner mehr versteht.“ Die Liste der Dinge, die eine Umsetzung auf der Bühne nicht gerade erleichtern, ist aus Theatersicht sogar noch länger: So gebe es keine Charaktere mit psychologischem Profil („Ein Mitfühlen ist nicht erwünscht.“), stattdessen eine stark konstruierte Handlung — und Figuren, die sich „in dadaistischer Manier“ durch drei Akte bewegen. „Selbst wenn man alles versteht, ergibt es keinen Sinn“, resümiert Lobbes.

Warum aber wollen die Wuppertaler Bühnen das Lustspiel dann überhaupt in Szene setzen? „Weil es andererseits auch toll ist“, sagt Held. „Und weil die Fragen, die gestellt werden, spannend sind“, ergänzt Lobbes. „Die Konstellation ist reizvoll“ — sofern man es schaffe, das Thema „von der Handlung und Psychologie zu lösen“.

Auch sprachlich seien die Gedankenspiele verlockend. „Höchstens zwei Sätze“ hat Lobbes deshalb gestrichen. „Büchner bedient sich der Sprache der Romantik und verballhornt sie“, erklärt Held.

Das Lustspiel komme leichtfüßig daher, dabei ist es gespickt mit versteckten satirischen Boshaftigkeiten, mit denen der Autor die damaligen Zwergstaaten und die Gedankenleere des herrschenden Adels aufs Korn genommen hat. Und es erzählt von allen möglichen und unmöglichen Gemütszuständen einer jungen Generation — von Antriebslosigkeit, Unsicherheit, Zukunftsangst, Verweigerung und Auflehnung gegen Strukturen und Autoritäten.

Hier wiederum schließt sich ein Kreis, denn Lobbes setzt nicht zum ersten Mal auf einen Generationenkonflikt. „Leonce und Lena“, so Held, sei sozusagen der Abschluss einer Trilogie, die mit „König Lear“ und „Baumeister Solness“ begonnen habe. Zuletzt hat Lobbes dafür gesorgt, dass „Der Blitz (Fukushima Sunrise)“ im Kleinen Schauspielhaus Uraufführung feierte.

Nun folgt ein Klassiker, der längst zur Schullektüre gehört — und nach wie vor höchst aktuell sei. Schließlich habe Büchner das Biedermeier-Lebensgefühl überhöht und damit beißende Kritik am Rückzug ins persönliche Idyll geübt, wie Held feststellt. Fast drei Jahrhunderte später sei genau das immer noch der entscheidende Punkt: „Es geht um den Rückzug ins Private, der heute seltsamerweise oft öffentlich zelebriert wird“, sagt Lobbes.

Abgesehen davon weiß der zweifache Vater aus eigener Erfahrung, dass Teenager nicht selten in ihrer eigenen Welt leben. Alles in allem hat er daraus ein dramatisches Fazit gezogen: Auf der Bühne soll es eine „gespielte Welt “ und eine „echte Welt“ geben. Zwei Ebenen also, zwischen denen die Figuren wechseln. Hier wie dort beherrschen zentrale Fragen die Szene: Wer gibt vor, ein anderer zu sein, wer hält an seinem Spiel fest, wer fühlt sich davon betrogen? Eine Antwort können Zuschauer in Barmen suchen — ab dem 25. Januar im Opernhaus.

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