Engels und die Zeit: Nachdenken über das „lange 19. Jahrhundert“

Das Jahrhundert war geprägt von tiefgreifenden Widersprüchen.

Engels und die Zeit: Nachdenken über das „lange 19. Jahrhundert“
Foto: Anette Hammer

Die Planungen für das Engelsjahr 2020 laufen auf Hochtouren — Friedrich Engels’ 200. Geburtstag soll groß gefeiert werden. Und mit solch einem Jubiläum kann man eine Menge anstellen. Man könnte zum Beispiel versuchen nachzuvollziehen, in welche Zeit dieser berühmte Mann hineingeboren wurde, um sein Werk zu verstehen. Das machen Historiker in der Regel so. Sie sprechen zum Beispiel vom „langen 19. Jahrhundert“, in dem sich eben jenes Verhältnis zur erfahrbaren „Zeit“ so radikal veränderte. (Eric Hobsbawm)

Wuppertaler

Geschichte

Dieses 19. Jahrhundert dauerte ziemlich lange, von 1789 (der Französischen Revolution) bis 1914 (dem Beginn des Ersten Weltkrieges), epochale Ereignisse, die aus der Sicht der Geschichtswissenschaft Beginn und Endpunkt eines „Jahrhunderts der Rätsel“ oder auch einer „Schwellenzeit zur Moderne“ markieren. Es war eine Epoche der intensiven Selbstreflexion, des Nachdenkens und der grandiosen Versuche, die Gegenwart zu verstehen: Zeitdiagnosen.

Was ist mit diesem „neuen“ Verständnis von „Zeit“ gemeint? Die Veränderung der Zeitvorstellungen begann mit einer dramatischen Verlängerung der Erdgeschichte. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verlagerte sich nämlich die wissenschaftliche Vorstellungskraft auf eine Geschichte der Erde, die noch vor dem Auftreten des Menschen begonnen haben musste. Schottische Geologen etwa rechneten bereits mit erdchronologischen Einheiten von Millionen statt nur mit einigen tausend Jahren. Diese so radikal veränderten Zeitvorstellungen folgten der rapiden Beschleunigung in allen Lebensumständen, die der Epoche den Rhythmus vorgab. War man zu Beginn des Jahrhunderts noch reichlich ungeübt im Umgang mit Sekunden und Minuten, so gewannen Genauigkeit und Pünktlichkeit an Bedeutung. „Noch um 1800 vollzog sich der Reiseverkehr im Rhythmus des Pferdes. Am Ende des Jahrhunderts erreichten die Prototypen bestimmter Automobile bereits eine Geschwindigkeit von 200 Kilometern in der Stunde. All dies sollte die Wahrnehmung des Raumes grundlegend modifizieren“, so der französische Historiker Alain Corbin.

Innerhalb nur eines Menschenlebens verwandelte sich eine rückständig feudalistische und weitgehend statische Agrargesellschaft in Deutschland in eine hoch technisierte, kapitalistisch geprägte Industriegesellschaft. Am Ende des Jahrhunderts waren die alten Strukturen pulverisiert und die neue Welt eine radikal andere. Diese umfassende Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit wurde begleitet von einem schier grenzenlosen Fortschrittsglauben und dem gleichzeitigen Aufeinandertreffen von eklatanten Widersprüchen. Es gab Gewinner und Verlierer der Modernisierung. „Hinter der Maske der Zivilisation zeigte sich das Gesicht der Barbarei, hinter urbanen Prachtfassaden die Elendsviertel und das Tier im Menschen.“ (Corbin) Die verbreitete Vorstellung eines generellen Fortschritts erwies sich schon bald als Mythos, welcher Identität und Denken der Epoche vielfältig prägen sollte.

Spätestens in der Mitte dieses „langen 19. Jahrhunderts“ wurde dann der zentrale Widerspruch der Zeit, nämlich der zwischen Lohnarbeit und Kapital, von Karl Marx und Friedrich Engels auf den Begriff gebracht. Sie erhoben die Arbeiterschaft zum Subjekt der Weltgeschichte: Motor und Überwinder des Kapitalismus gleichermaßen. Damit schufen die beiden eine dialektische Konstruktion, wie sie nur aus den ambivalenten Erfahrungswerten einer Epoche verständlich wird, die — beispiellos dynamisch — durch Umbrüche und Neuorientierungen geprägt war. Darüber nachzudenken und damit auch Engels besser zu verstehen, kann lehrreich sein — und unterhaltsam zugleich.

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